Trinität – Die Suche nach dem Ursprung bei Klaus Hemmerle

Wie ‚geht‘ Zukunft?

Bei der Frage „Wie ‚geht‘ Zukunft?“ handelt es sich um eine Lieblingsformulierung von Klaus Hemmerle. Gerne formuliert er: Wie geht das? Glauben, wie geht das? Lieben, wie geht das? Spielen, wie geht das? Dreifaltig leben, wie geht das? Er stellt Fragen und schaut hin. Er nimmt Fragen an, er nimmt Fragen auf, er öffnet sich jeder Fragestellung genauso, wie er es bei seinem Lehrer Welte gelernt hat.

Da wird für ihn das weltbekannte Bild der Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle Roms zur Brücke einer tieferen Gewissheit. Er bedient sich der Methode der Phänomenologie: Er schaut hin. Ihm fällt auf, wie Michelangelo – von der bisherigen Tradition abweichend – die abgebildeten Gestalten angeordnet hat. Adam ist in der linken Bildhälfte, der Schöpfergott, der in seinem Gewandbausch schon Eva ‚bereithält‘, ist auf der rechten Bildhälfte zu sehen. Folgt man der abendländischen Leseordnung – wir lesen ja von links nach rechts anders als die Hebräer –, dann erscheint der Schöpfergott an zweiter Stelle nach Adam. Würde hier der Vorgang der Erschaffung Adams in reiner Kausalität dargestellt, dann müsste der Schöpfergott – wie oft in der Buchmalerei des Mittelalters – links von Adam sein.

Nun aber ist der Schöpfergott auf der rechten Seite, Adam gegenüber, die Zukunft von Adam. Es kommt zu einer Mehr-Kausalität oder – wie Klaus Hemmerle mit dem von ihm verehrten und geschätzten früheren Würzburger Philosophen Heinrich Rombach gerne sagte – ‚Mehrursprünglichkeit‘. Gott hat also den Menschen nicht nur einmal geschaffen, am Anfang, sondern er erschafft und er bildet und formt den Menschen heute, im Jetzt. Gott, der Schöpfer ist die Zukunft des Menschen. Das heißt für Klaus Hemmerle: Der dreifaltige Gott – es gibt keinen anderen – erschafft und bildet und formt heute den Menschen.

Die Stelle, an der Gott den Menschen neu schafft, ist genau dort, wo der Mensch in absoluter Aporie vor seinem eigenen Abgrund, vor seinem Nichts, vor seinem Out steht. Hier will ihn der Finger Gottes berühren. Zentrales Vorbild und gleichzeitig zentrale Verheißung für dieses ständige Neu-Schaffen des Menschen ist für Klaus Hemmerle der Kreuzestod und die Auferstehung Jesu Christi. Sie ist in der Geschichte geschehen und übersteigt sie gleichzeitig. Das Neu-Schaffen des Menschen hat seinen Ursprung sowohl auf unserer Erde und in unserer Zeitlichkeit als auch im Schaffensakt des dreifaltigen Gottes. Es führt gleichzeitig über dieses Universum und die Jetzt-Zeit hinaus in eine neue Dimension des Seins.

Ich möchte mit Ihnen die entscheidenden Textpassagen lesen:

Interpretation der ‚Erschaffung des Adam‘ von Michelangelo1

Mir selbst ist an diesem Bild und seinen Verhältnissen eine nicht unerhebliche Korrektur selbstverständlich mitgebrachter Schöpfungs-, ja Gottesvorstellungen widerfahren oder zumindest konkret geworden. Denken wir uns nicht die Schöpfung in etwa wie folgt? Auf der linken Seite, am Anfang der Schriftzeile, steht als Ursache Gott. Und dann stößt er, sozusagen vom Rücken her, das Geschöpf und auch den Menschen an. Geschöpf und Mensch gehen weiter in die Bildfläche und Schriftzeile hinein, haben eine offene Zukunft vor sich – und Gott ist im Rücken, seine ‚Hauptzeit‘ ist die Vergangenheit. Die Bewegung läuft von ihm weg, auch wenn er sie natürlich im Blick behält und inszenierend verfolgt.

Gemäß der an Michelangelos Fresko beobachteten Bildlogik aber – und mir scheint das die Logik des Vorganges selber zu sein – ist Gott in der Richtung des Aufbruchs in die Zukunft dem Menschen je schon voraus. Er ist die Zukunft ohne Ende, ist sie ganz und gar auf einmal, in einem ewigen Augenblick – und er erweckt etwas, das nicht ist, damit es aufbreche und Zukunft, ihn als Zukunft, habe. Sicher, das Endliche hat nicht aus sich die Kraft der Zukunft ohne Maß und Grenze, aber sofern das Endliche Zukunft hat, sofern das Sterbliche Leben hat, kommen Sein und Leben ihnen zu aus dem, der Zukunft ist und gibt.

Die Zukunft beugt sich zurück zu mir, ruft mich, rührt mich an. Das erste, was geschieht, wenn das Geschöpf, bildhaft oder im eigentlichen Sinne gesprochen, seine Augen aufschlägt, ist der Blick nach vorne, ist das Schreiten in die Zukunft. Zukunft zugesprochen bekommen, damit fängt es an. Aus der Zukunft wird die Schöpfungsbrücke in meine Gegenwart, sodass ich zur Zukunft hin aufzubrechen vermag.

Schon immer ist Zukunft. Wenn uns dies aufgeht, können wir atmen. Ob *meine* Zukunft unbegrenzt ist, *wie* sie sein wird, sicher beschäftigt mich derlei Sorge von Anfang an. Doch sie ist bereits eingetragen in jene Urerfahrung, dass es weitergeht und der ungewisse, unverfügbare, je nur tropfenweise in die Gegenwart hinein fließende Strom der Zeit eine Quelle hat; und diese Quelle liegt vor mir, Zeit und Leben kommen mir zu. Leben als das meine ist Antwort, die dem Wort entgegen läuft, das von vorne, in meinem Antlitz mich ereilt hat: Komm und sei! 

Die Gegenerfahrungen sind gewichtig und gerade heute drückend. Ist es indessen nicht fällig, sich dem zu stellen, dass alle diese Gegenerfahrungen erst Gegen-Erfahrungen sind, Widersprüche, Defizite gegenüber einer ihnen zuvor laufenden Grundtendenz, ja Grunderfahrung?

Das hat christlicher Glaube mit anderen Formen religiösen Lebens gemein: Der Grundvollzug ist das Vertrauen, Vertrauen aber geht weiter, wagt sich nach vorne, weil von vorne her die Einladung, die Ermutigung zum Sein, die Gewähr des Seins und des Lebens, die Verheißung der Zukunft kommt. Und solches ‚Komm her! Brich auf! Wage es!‘, das hat seine äußerste Konsequenz und höchste Erfüllung dort, wo in das Entzogene, Unsichtbare hinein, das doch vor mir liegt, das Wort ‚Vater‘ hinein gesagt werden darf.

  1. Hemmerle, Klaus: Anfang bei der Zukunft: Anfang beim Vater, 145–147. Eine Abbildung des Freskos ist zu finden auf den Seiten der Vatikanischen Museen ↩︎