Viele Wege führen ins Getto

Wendemarken der Flucht*

Ist es indessen nicht ein billiger Trick, Einseitigkeiten aufzuzeigen, die natürlich jeweils isolierend wirken müssen, um so an allen Enden der Kirche die Gefahr des Gettos vorzuweisen? Gleicht die Kirche zwischen den skizzierten Versuchen nicht schließlich dem Hasen der Fabel, der sich, in der Ackerfurche hin und her hastend, zwischen dem Igel und seiner Frau zu Tode rennt? Vielleicht ist es in der Tat der einzige Weg, dem Getto zu entgehen, wenn die Kirche sich nicht durch die Angst vor dem Getto leiten läßt. Vielleicht kommt es einfach darauf an, daß sie sich unbeirrt, aber stets unbequem am Herrn selber orientiert. Die Orientierung an Jesus Christus aber ist - darauf wurde schon kurz hingewiesen - Übernahme der Spannungen, die sein Leben prägen. Die Grundspannung des Lebens Jesu: Er ist orientiert am Willen des Vaters allein, ohne Schielen auf Erfolg oder Mißerfolg, ohne Frage nach „Effektivität“ – und gerade deshalb ist er da für die Vielen, ist er dort, wo die Vielen sind; der Wille des Vaters stößt ihn hinein in die äußerste Solidarität mit [77] uns. Von dort aus, wo wir sind, aus unserer Ferne von Gott und aus unserer Entfremdung von Gott vollbringt er sein Verhältnis des Sohnes zum Vater. Das ist auch die Situation der Kirche: Ihre Botschaft und ihr Dienst entstammen einer unabdingbaren Sendung; sie kann nicht darüber verfügen, wie sie sich verstehen und wie sie sich darstellen will. Doch gerade die unverfügbare Sendung und der unveränderliche Auftrag weisen sie in die je neue Solidarität mit allen Fragen und Nöten der Menschheit. Weltweite Solidarität und Mut zur harten Unterscheidung müssen sich je durchdringen.

Diese Grundspannung realisiert sich in vielfältiger Weise, etwa in der Spannung zwischen Tradition und je neuem Ereignis, zwischen Einheit und Vielfalt, zwischen Radikalität der Forderung und ständigem Zeugnis des Erbarmens. Jede dieser Spannungen muß, in jeder Situation neu, von der Kirche ausgestanden werden.

Doch nun, was ließe sich konkret, in der jetzigen Stunde als Konsequenz daraus ableiten? Wo liegen Wendemarken der Flucht ins Getto? Einige „subjektive“ Hinweise hierzu:

  1. Theo-logie und Christo-logie sollten wieder den Vorrang bekommen vor der Ekklesiologie. Kirche sollte wieder weniger von sich selber reden und über sich selber nachdenken; sie ist heute mehr nach Gott und nach Jesus als nach sich selbst gefragt, und vielleicht „ist“ gerade dies die Kirche: Gemeinschaft, die sich nach Gott, die sich nach Jesus Christus in ihrer Mitte fragen läßt.

  2. In der Kirche sollte man weniger über ihren Weltauftrag und ihre gesellschaftliche Funktion reden; Christen sollten sich wieder mehr unmittelbar darum kümmern, was zu den konkreten Fragen in Welt und Gesellschaft zu sagen und zu tun ist. Erinnert sei an die Fragen, die in der universalen Planung unserer Gesellschaft, in den Bereichen der Berufe und der Bildung zumal, sich für die Freiheit des Menschen ergeben, deren Anwalt zu sein die Christen und ihre Kirche verpflichtet sind: Sachdiskussion anstelle von Kompetenzdiskussion!

  3. Die Strukturen, die es in der Kirche zu erneuern gilt, dürfen nicht zum Selbstzweck und nicht zum Thema Nr. 1 der innerkirchlichen Bemühungen werden. Sonst verdunkeln sie jene Struktur, die die Kirche selber ist, jenes Geschehen der sich verschenkenden Liebe Gottes, die in der Welt präsent sein will durch die Gemeinschaft derer, die sich und ihre Gabe und ihr Recht aneinander verschenken, die aber gerade deswegen auch Gabe und Recht und Sendung, die von Christus herkommen, anerkennen. Eine Kirche, in deren Strukturen der Unterschied des Evangeliums sichtbar ist, wird auch [78] für die Gesellschaft überzeugender sein als die perfekte Kirche, in der alle durch ihre abgesicherte Kompetenz gegeneinander isoliert sind.

  4. Verkündigung und Theologie haben die Aufgabe, das unterscheidend Christliche nicht zu verschweigen und nicht zu nivellieren, sondern es zu bezeugen. Ort und Perspektive des Zeugnisses aber definieren sich durch die Situation, durch die Fragen der Menschen, wo und wie sie sind. Nur so entsteht jene lebendige Spannung, die übersetzt, indem sie bewahrt, und bewahrt, indem sie übersetzt.

  5. Letztlich aber wird alles davon abhängen, wie viele einzeln und wie viele gemeinsam bereit sind, sich ganz persönlich auf das Evangelium und deswegen auf Jesus und deswegen auf ihre Nächsten und deren Welt einzulassen. Aufbruch in die Unmittelbarkeit des Gebetes, der Nachfolge, der gelebten Hoffnung und Liebe, das ist letztlich die Chance, um die Weite und Fülle Gottes sichtbar und glaubhaft zu machen, die das bare Gegenteil aller Enge, allen Gettos ist. Es gibt keine „geschlossenere“ Gemeinschaft als jene zwischen dem Vater und dem Sohn im Heiligen Geist. Doch diese „geschlossene“ Gemeinschaft gerade umspannt allein auch die ganze Welt. Für uns aber hat einer gebetet, daß wir genauso eins seien wie sie, damit die Welt glaube.