Gemeinschaft des Zeugnisses: Wandlungen im kirchlichen Institutionswesen
Sinn der Institution vom Ursprung der Kirche her
Es gehört zu jeder Gemeinschaft, daß sie Strukturen ausbildet; erstreckt sie sich auf Dauer, so erhält sie, selbst [127] wenn dies nicht auf rechtliche oder auch nur auf reflexe Weise geschähe, Elemente des „Institutionellen“. Und doch ist von ihrem Ursprung her, ist von Jesus und seiner Botschaft her es keineswegs selbstverständlich, daß Kirche als Institution entstanden ist. Das widerspricht nicht der Aussage, daß er selbst diese Institution stiftete. Doch das Umgrenzende, Absondernde, das in der Institution Kirche beschlossen liegt, steht in Spannung zu dem ursprünglichen Charakter der Botschaft Jesu. Jesus unterschied sich gerade dadurch von anderen Gruppen im Judentum seiner Zeit, etwa von den Essenern, daß er nicht eine eklektische Heilsgemeinde gründen wollte; er predigte vielmehr das Kommen der Gottesherrschaft dem ganzen Volk, seine Sendung verstand er als auf ganz Israel bezogen. Daß die Differenz zwischen der Kirche Jesu und dem Gottesvolk des Alten Bundes überhaupt eintrat, hat seinen Ursprung nicht in der anfänglichen Stoßrichtung der Predigt Jesu, sondern in der Ablehnung, die diese ans ganze Volk gerichtete Predigt bei großen Teilen und gerade in den offiziellen Schichten dieses Volkes erfuhr.
Die Kirche ist also, gemessen an der Universalität der Predigt Jesu, eine „Notlösung“, nicht der selbstverständliche Austrag des in der Botschaft Jesu Angelegten. Sie ist aber nicht nur dies, sondern hat über solche geschichtlich endliche Begrenzung hinaus und in ihr zugleich doch den Charakter einer größeren Universalität, als sie mit der Annahme der Botschaft Jesu durch Israel allein gewährleistet worden wäre.
Gerade das partielle Nein Israels ist der heilsgeschichtliche Raum für das in der Kirche aufleuchtende Ja Gottes zu allen Völkern, wie die Kapitel 9–11 des Römerbriefes insbesondere dartun. Und auch die „Begrenzung“, die Verengung der sichtbaren Kirche auf diese bestimmten Glie- [128] der, während andere draußen stehen, hat indirekt wiederum einen gesteigerten universalen Sinn: In der Kirche sein, das heißt, das Dasein des „Gottesknechtes“ (vgl. Jes 53) für die vielen mit übernehmen, Verantwortung für die anderen tragen, heißt Hinblick und Einsatz aufs Ganze der Menschheit zu. Gerade dieser Zug des Gottesvolkes des Neuen Bundes, als welches sich die Kirche weiß, kommt in den Texten des Zweiten Vatikanums, zumal in der dogmatischen Konstitution über die Kirche zum Ausdruck. Die Kirche wird „Sakrament“ des Heils der Welt genannt.1 Wieso sagt dies eine gesteigerte Universalität aus? Deshalb, weil die Glieder der Kirche auf solche Weise nicht nur passive Empfänger des Heiles sind, sondern weil sie selbst in die Universalität des Heilswillens Gottes mit ihrem Dasein und Christsein hineingezogen werden. Hier übersteigt die Kirche als Institution den Charakter des nur „Not-wendigen“, hier wird in der Kirche als begrenzter und bestimmter, in der Kirche als „Institution“ die ursprünglichste Absicht Gottes für das Heil der Welt sichtbar und greifbar. Das Zweite Vatikanum drückt dies folgendermaßen aus: „Es hat Gott gefallen, die Menschen nicht ohne Rücksicht auf jegliche gegenseitige Verbindung zu heiligen und zu retten.“2
Einen weiteren Zug, der die Kirche als solche, als Gemeinschaft im Geiste des erhöhten und zum Vater heimgegangenen Herrn unmittelbar positiv auszeichnet, finden wir in der johanneischen Theologie: Der johanneische Christus sagt, daß es gut sei, wenn er von uns gehe, weil sonst der Geist nicht kommen könne (Joh 16,7); und er verheißt des weiteren, daß jene, die an ihn glauben, dieselben Werke tun werden wie er, ja noch größere Werke als diese (Joh 14,12). Was soll das heißen? Der Herr möchte, [129] wie schon gesagt, nicht bloße passive Heilsempfänger, er will, daß Menschen ganz in sein Geheimnis eintreten, und das heißt, daß sie in seine Freiheit eintreten, in eine Orientierung an ihm, die nicht mehr bloß von äußerer Präsenz geregelt, sondern spontan aus dem Geist, der in ihnen lebt, gewährt wird. Die Kirche wird so zur Vollendung der Freiheit der Erlösung, zur Gemeinde der im Geiste Jesu Mündigen, nicht weniger innig von ihm allein abhängig, doch so von ihm abhängig, daß die Verbindung mit ihm Freiheit, Spontaneität wird. Und erst in dieser Freiheit der Kirche, die aus dem Geist die der Welt verborgene Gegenwart des erhöhten Herrn gewahrt und bewahrt, wird das „größere“, das eigentliche Werk Jesu vollendet: seine Botschaft und ihr Heil bis an die Enden der Erde und der Geschichte fortzutragen. In dieser Freiheit vollendet sich in der Horizontale jenes, was in der Vertikale Ursprung des Heils ist: die Einheit Jesu mit dem Vater. Sie soll nun, zwischen Menschen gelebt, das große Zeugnis für die Welt werden (vgl. Joh 17,23); menschliches Mitsein ist berufen, der Welt das Geheimnis Gottes zu schenken.
Das reicht zwar hinaus über die institutionellen Momente der Kirche, schließt sie aber keineswegs aus; jener, dem der österliche Herr die Lauterkeit seiner Liebe bohrend abfragt, wird aus dieser Liebe die Lämmer des Herrn weiden. Die personale Beziehung zum Herrn öffnet sich in dem institutionellen Dienst an seiner Gemeinde, an der Gemeinschaft ihrer Glieder mit dem Herrn und miteinander (vgl. Joh 21,15–17).
Tragen wir die bislang gesehenen Elemente zusammen, so ergibt sich folgender Befund: Gottes Herrschaft, die Jesus verkündet und die in Jesus einbricht in diese Weltzeit, ist von ihrer ursprünglichen Intention her universal: [130] Gott will das Heil der Welt, das Heil aller Menschen. Er will es aber nicht nur als Heil für die Menschen, sondern, so sehr es immer nur Heil von ihm her ist, doch auch als Heil durch den Menschen, Heil, das im Medium menschlichen Mitseins weitergeschenkt wird. So soll das Geheimnis Jesu, seiner Sendung und seiner Freiheit, auch zum Geheimnis jener werden, die ihm angehören. Hierin liegt ein erster Grund für die Kirche als Institution, will sagen dafür, daß Menschen auf bestimmte Weise dem Herrn zugehören und dadurch befähigt werden, sein Heil weiter zu vermitteln.
In diese grundsätzlich auf Kirche als (im weitesten Sinn verstanden) „Institution“ orientierte Tendenz des Heilswillens Gottes greifen jedoch vermittelnd weitere Elemente ein: zunächst das Nein, auf das Jesu Predigt stößt, so daß sie die Menschen scheidet, Institution im Sinne der Ausgrenzung und Verengung also statthat; sodann aber der selbst wiederum universale Sinn dieser Begrenzung und Verengung, sofern das institutionell Begrenzte, die bestimmte, sichtbare Kirche, „Zeichencharakter“ trägt, so also nicht beruhigt in sich steht, sondern wesentlich unterwegs ist zum Ganzen der Menschheit und ins Ganze der Geschichte hinein; schließlich, als drittes Element, die „Trennung“ des sichtbaren Abschieds der Kirche vom Herrn, der zum Vater heimgeht, welche Trennung aber den positiven Sinn der näheren und freien Verbindung mit ihm durch seinen Geist hat. Das eigentlich Zeichenhafte an der Gemeinschaft der Kirche, so ging uns schließlich auf, ist diese Gemeinschaft selbst, ihr Einssein, das, sich zwischen Menschen begebend, hinweist auf die Einheit des Vaters mit dem Sohn und sie als den Inbegriff des Heils der Welt bezeugt und schenkt. Solche Einheit, solche Unmittelbarkeit zueinander als Stätte der Unmittelbarkeit [131] Gottes, übersteigt freilich den Charakter des Institutionellen, gewährt ihn aber auch zugleich.