Glauben – wie geht das?
Persönliche Rechenschaft
Ein solcher Zusammenhang kann aber nicht nur vom einen Pol her entfaltet werden, er muß auch in der umgekehrten Richtung gehen. Sicher hat die Botschaft den Vorrang, sicher ist der Anfang Gottes auf uns zu jener Anfang, der im Glauben, im Leben aus dem Glauben unserem eigenen Anfangen vorausgeht und es trägt. Der Anfang Gottes kommt aber nur im menschlichen Zeugnis auf uns zu, er wird nur dort als Anfang Gottes sichtbar, wo jemand bereits antwortend auf Gott zu anfängt, sich, sein Glauben, sein Leben dem Anfang Gottes einräumt. Daß Gott in der Botschaft des Evangeliums, daß Gott im Weg der Kirche auf den Menschen zugeht, das wird erst glaubhaft, das rückt erst in den Horizont des Menschen, indem Glaubende ihren Glauben, ihr Leben aus dem Glauben, ihren Ansatz, antwortend auf Gott zuzugehen, offenlegen.
In der Tat erwuchs so auch die Besinnung, die sich in diesem Buch verfaßt. Leitend war der Hinblick auf die Schrift, auf die Botschaft. [214] Vom Wort Gottes aus sollte sichtbar werden, wie Glaube geht. Doch in solches Wegblicken von sich auf die Botschaft zu nimmt der Glaubende notwendig sein Glauben, sein Leben, sich selbst mit. Er rechtfertigt, begründet, korrigiert, vertieft seinen eigenen Weg am Weg Gottes, er trifft auf diesen Weg Gottes nur als einer, der selbst einen Weg geht, seinen Weg geht.
So gehört zur Rechenschaft über den vorgelegten Gedankengang auch etwas wie die persönliche Rückfrage dessen, der ihn vorlegt, an sich selbst: Geht Glaube auch für dich so, wie du ihn anderen sagst? Wie bringst du deinen eigenen Weg mit ein in jenen Weg, auf den du andere einlädst? Im Gang der Besinnung zielten mancherlei Hinweise bereits auf das Leben des einzelnen und auf das Leben miteinander aus dem Glauben. Am Ende sollen diese Hinweise noch einmal miteinander verbunden und knapp zusammengefaßt werden. Es geschieht in einer Reihe von Fragen, die der Schreiber aus seinem Tag und Alltag in den Tag und Alltag des Lesers hineingibt.
– Glaube ich, daß Gott wirklicher, wichtiger und wirksamer ist als alles andere, als meine Erfahrungen, Vorstellungen, Wünsche und Ängste, als meine Meinungen und die Meinungen anderer, als das, was man gemeinhin die Realitäten nennt? Wenn Gottes Herrschaft herangekommen ist, wenn Gott in Jesus Christus sich hineinbegibt in mein Leben und meine Welt, dann bleibt mir keine andere Antwort als die: ihn meinen Gott sein zu lassen, gegen allen anderen Anschein ihm Recht, Rang und Macht über mein Leben und meine Welt einzuräumen, mich und alles unter der Prämisse Gottes zu sehen, mein Bewußtsein und seine Maßstäbe auf diesen Gott hin umzuorientieren, umzukehren.
– Glaube ich daran, daß dieser Gott Liebe ist? Löse ich in meinem Verhältnis zu ihm dieses elementare Credo ein: Wir haben geglaubt an die Liebe! (1 Joh 4,16)? Glaube ich daran, daß die Liebe mehr recht hat und daß sie mehr Macht hat? Glaube ich daran, daß auch das, was nicht aufgeht, daß auch das, was ich nicht verstehend auflösen und in eine heile Welt hinein harmonisieren kann, von Gott her zutiefst nichts anderes ist als Liebe? Auch dann, wenn ich nicht [215] sehe, wie und warum? Löse ich immer wieder die Inseln der Angst, die sich in dieses Vertrauen einnisten wollen, in gelassene, wartende, lautere Hingabe auf?
– Lebe ich in Gottes neuer Zeit? Lebe ich im gegenwärtigen Augenblick? Oder weiche ich ihm und damit dem Blick des lebendigen Gottes aus in eine Vergangenheit, von der ich mich nicht löse, oder in eine Zukunft, die es erst in meinen Phantasien, Ängsten, Erwartungen, Plänen gibt?
– Bin ich in lauterer Gesinnung bereit, lieber als alles andere Gottes Willen zu tun? Oder rede ich mich darauf hinaus, daß man so genau diesen Willen Gottes nicht kennen könne, und verstecke mich dann hinter meine eigenen Vorsichten und Rücksichten? Daß Gott mein Gott ist und daß ich mit diesem Gott lebendig lebe, entscheidet sich doch daran, daß ich will, was dieser Gott will. Und wenn einmal das Was des Willens Gottes undeutlich wäre, immer deutlich ist sein Wie: er will von mir vorbehaltloses Vertrauen und vorbehaltlose Liebe. Im Lichte dieses Wie aber finde ich auch leichter den Weg zum Was. Und im Bewußtsein, daß Gott seinen Willen nicht nur von mir, sondern auch mit mir und in mir will und mitträgt, finde ich Mut, meine Angst vor der Überforderung durch Gottes Willen zu überwinden. Das alte und fremde Wort „lieber sterben als sündigen“ ist kein drückendes, sondern ein befreiendes Wort, wenn es im Glauben an die Liebe, wenn es im Geist der Kindschaft und nicht der Knechtschaft gehört und vollzogen wird.
– „Auf dein Wort hin“ (Lk 5,5): Ist dies auch die Formel für mein Leben und mein Tun? Es gibt sicher verschiedene Wege, um das eigene Leben mit dem Wort Gottes zu durchdringen und aus ihm zu gestalten. Daß es aber Fleisch werden will in unserem Alltag, daß es uns lebendiges, gegenwärtiges Wort sein will, daß es uns hier und jetzt gelten und betreffen will, das gehört unabdingbar zu unserer Situation hinzu, zur Situation der Nachfolge im Zeitalter der anbrechenden Gottesherrschaft. Der Versuch, gemeinsame Erfahrungen im Alltag mit dem Wort Gottes zu machen und diese Erfahrungen auszutauschen, ist nicht die einzige, aber eine besondere wirkmächtige und vielfältig bewährte Möglichkeit des Lebens aus dem Wort.
– [216] Schaue ich und stoße ich durch die vielen Aufgaben und Situationen immer wieder hindurch zur Mitte dessen, was Jesus will: auf „sein“ Gebot (vgl. Joh 15,12), aufs „Neue Gebot“ (vgl. Joh 13,34)? Lieben, wie er geliebt hat – das fordert mir die Frage ab: Bin ich bereit, das Ja mitzusagen und mitzutun, das Jesus mit seinem Blut zu meinem Nächsten hat? Bin ich bereit, den je jetzt fälligen „Blutstropfen“ für ihn zu vergießen? Für den, der jetzt meine Zeit, meine Aufmerksamkeit, meinen Rat, mein Geld, meinen Blick, meine klare, vielleicht auch nicht für ihn und mich bequeme Entscheidung braucht?
– Stoße ich durch in den Erfahrungen des Negativen zur Begegnung mit dem, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat (vgl. Gal 2,20)? Mache ich ernst damit, daß ich keinem Schmerz, keiner Schuld, keinem Warum, keiner Tragik – in mir, bei meinem Nächsten, in der Welt – begegnen kann, ohne ihm zu begegnen, der dies alles zu seiner Last gemacht, ausgelitten und so von sich her in Liebe verwandelt hat? Bin auch ich bereit, dies alles zu verwandeln, indem ich mein Ja und Du zu ihm, dem für mich und für die Welt Gekreuzigten, sage? Lebe ich in der Flucht vor ihm oder im Mut, liebend jeden Tag neu auf ihn zuzugehen? Solches Zugehen ist die tiefste Kraft, das veränderliche Negative zu verändern und das unveränderliche Negative zu verwandeln.
– Bin ich bereit, im Blick auf ihn auch mich und meine Situation anzunehmen, meine Problematik und vielleicht Unerträglichkeit für mich selbst? Lebe ich daraus, daß er mich angenommen hat? Mache ich ernst damit, daß sein Leben und Sterben „für mich“ wirklicher und wichtiger ist als die noch so enttäuschende Erfahrung mit meinem „Ich“?
– Lebe ich mit dem, der lebt? Bleibe ich an mir, an den Umständen, an meinen Vorbehalten oder schlechten Erfahrungen, am Äußeren der Kirche hängen – oder dringe ich durch, bis ich ihm begegne, bis ich ihn finde, der sich hier mir gibt: im Bruder und in mir selbst, in dem Wort, das er mir sagt, in dem Sakrament, das er mir reicht und in dem er sich und seine Liebe mir reicht, in denen, die in seinem Namen der Kirche und so auch mir etwas und ihn selber sa- [217] gen und bringen? Starre ich auf meine Angst vor dem unbeweglichen Stein – oder sehe ich, daß er weggewälzt ist, daß die Begegnung mit ihm mir freigegeben ist, daß er lebt?
– Wo immer ich mit anderen zusammen bin, zu sprechen und zu tun habe, ist Raum, in welchem der lebendige Herr gegenwärtig, in welchem er mitten unter uns dasein will. Tue ich wenigstens das Meine dazu, um ihm den Weg zu bereiten? Gehe ich so auf ihn und aus seinem Geist auf die anderen zu, daß die Voraussetzungen wachsen können, damit er seine Gegenwart schenken kann? Habe ich diese Leidenschaft für ihn, für die Welt, für die Gesellschaft, für die Kirche, die weiß: Leben, ganzes Leben ist, wo er unter uns lebt?
– Ist mir der Jesus im anderen und der Jesus in unserer Mitte wichtiger als „mein“ Jesus? Bin ich nur in mein Charisma, in meine Einsicht, in meine Probleme verliebt – oder gehe ich auf ihn im andern, auf ihn in unserer Mitte zu? Bin ich in der Mitte oder ist er es, wo ich mit anderen zusammenbin?
– Bin ich auch dann, wenn ich allein bin, Ausdruck von Jesus, der inmitten seiner Kirche lebt? Bin ich auch dann bereit, aus dem Licht des Herrn in der Mitte jener, die an ihn glauben, mein Leben und meine Aufgaben zu sehen, anzunehmen, zu tun? Der Herr kann nur die Mitte meines Lebens und meines Denkens sein, wenn er mir Mitte gemeinsamen Glaubens und Lebens, wenn er mir der eine Herr in der Mitte der vielen ist.
– Habe ich die Leidenschaft, daß alle eins seien (vgl. Joh 17,21–23)? Bin ich der Diener der Einheit dort, wo ich bin, in meiner Familie, in meinem Wohn- und Lebensraum, in meinem Arbeitsfeld, unter meinen Freunden? Und bin ich zugleich jeweils offen, über den eigenen Kreis hinauszuschauen und Türen zu öffnen, Gräben zu überspringen, Risse zu heilen? Und wenn ich die Einheit suche: ist sie für mich nur ein Kompromiß, der den Konflikt verhütet oder zukleistert – oder weiß ich, daß Jesus dort Einheit stiftete, wo er die Spannung und Spaltung zwischen Gott und Menschen und zwischen Mensch und Menschen am Kreuz auslitt? Einen anderen Weg zur wirklichen Einheit als den Weg Jesu gibt es nicht.
– [218] Bin ich – diese Frage mag eigentümlich klingen – für die anderen Maria? Bin ich so leer von mir, so offen über mich hinaus, daß mich Gott für sich beanspruchen und so für andere in Dienst nehmen kann? Maria ist der Weg, ihr Schweigen, ihr Hintergrundsein, ihr Sichgeben und Allesgeben, damit Jesus geboren werden kann. Was in Bethlehem geschah und was an Pfingsten neu geschah, ist auch unsere Aufgabe: Der Herr will geboren werden, er will in die Mitte kommen, er will durch seinen Geist neue Einheit und neue Offenheit stiften. Das Werkzeug dafür heißt Maria. Maria als geschichtliche Gestalt und als unsere Lebensgestalt. – Wie sehe ich meine Rolle, wenn ich mit dem Nächsten zu tun habe, im Sprechen und Zuhören, im Dienen und Leiten, im Versöhnen, Vermitteln und Inspirieren? Wenn christliches Leben Leben aus Gott, Leben nach dem Maß Gottes bedeutet, wenn der Herr uns erbittet, daß wir eins seien, wie Vater und Sohn eins sind im einen Geist, dann muß Gottes dreifaltiges Leben seine Rückwirkung haben auf unser alltägliches Verhalten zueinander, (vgl. Phil 2,1–11). Nur wenn wir uns selber mitgeben, wo wir zu sagen, zu handeln, zu geben haben; nur wenn wir selbst Wort und Ausdruck des andern werden, wo wir zu hören, zu dienen, zu helfen haben; nur wenn wir uns zurücknehmen ins vermittelnde und inspirierende Dasein für ..., kommt dieses göttliche Leben, kommt unser Auftrag zur Geltung, Einheit zu stiften, göttliches Einssein weiterzutragen in der Welt.
– Wie im Himmel so auf Erden: Haben wir den Mut, über den Bereich der bloß spirituellen Haltung vorzustoßen, um unseren Dienst in Welt und Gesellschaft mit dem Geist des Evangeliums zu durchdringen? Werden unser Haben und Nichthaben, unser Geben und unser Leisten; wird unser Umgang mit der Not in der Welt; werden unser Einsatz und unsere Erholung, unser Bauen, Wohnen, Genießen; werden unsere Bildung und unsere Kommunikation Ausdruck, Zeichen dessen, was Gott uns gegeben hat, indem er sich uns gegeben hat? Ausdruck und Zeichen dessen, worauf wir hoffen, wenn wir auf die Vollendung der Herrschaft Gottes hoffen?
– Wo schließlich liegt unser Ziel? Kann man uns anmerken, [219] daß wir nur ein Höchstes und Letztes kennen, jene Liebe, an die wir glauben, jene Liebe, die nicht nur Gottes erstes, sondern auch Gottes letztes Wort zu uns und zur Welt ist? Verbrennen wir in uns alles, was nicht Liebe ist, verwandeln wir um uns alles, damit es Ausdruck der Liebe sei? Können jene, die uns, unsere Liebe und unser Einssein sehen, daran glauben, daß Gottes Herrschaft nahe herangekommen, daß Gott die Liebe ist und daß die Liebe mehr recht hat?
Die Fülle, aber auch der Anspruch solcher Fragen können uns nicht nur ermutigen. Sie können uns auch in die Krise stürzen: Geht das wirklich? Jeder, der sich auf diesen Weg einläßt, wird durch die notvolle Erfahrung mit seiner eigenen Armseligkeit hindurchmüssen. Es genügt auch nicht, an jene Frage der Jünger zu erinnern „Wer kann da noch gerettet werden?“ und an Jesu Antwort, daß bei Menschen dies unmöglich sei, nicht aber bei Gott (vgl. Mk 10,26f.). Es ist wichtig und hilfreich, hier vor allem auf das eine zu verweisen: Nicht vieles, nicht Unübersehbares ist gefordert, sondern immer nur das eine: Leben im je gegenwärtigen Augenblick. Den je fälligen einen Schritt tun im Glauben an die Liebe und im Versuch zu lieben, das ist das Ganze.
Und zudem: entdecken wir hier nicht jene Einfachheit, die nicht vereinfacht? Jene Klarheit, die nicht um die Dimension der Tiefe verkürzt? Gott Gott sein lassen, Gott Liebe sein lassen, seine Liebe auch im Kreuz verstehen, seiner Liebe mit Liebe antworten, im Blick auf jeden und jedes, so die göttliche Einheit aufdecken und Gestalt werden lassen in unserem Leben und schließlich ihm, seiner Liebe die Vollendung überlassen. Sicher, das ist eine provozierend kühne Alternative zu dem, wie „gängigerweise“ das Leben geht. Doch es ist die Alternative des Glaubens, die Alternative Gottes. Der einzige Weg, damit diese Alternative gelingt: Er in uns, wir in ihm, jeden Augenblick aufs neue. Und wo etwas von dieser Alternative durchscheint in den verworrenen Wegen unseres Lebens und unserer Welt, da erkennen wir: Ja, das ist Leben, das ist Weg und Wahrheit, das ist Er!