Der Gekreuzigte
Kreuzlos
Verkehrte Welt, verkehrtes Kreuz!
Man drehe das Bild, so daß der Gekreuzigte
auf ihm zu liegen kommt.
Und siehe da: Er liegt nicht.
Er ist wie weggehoben vom Kreuz, an das er doch genagelt ist.
Als ob ein Windstoß ihn trüge.
Zurückgedreht in die rechte Ordnung:
Kaum mehr Reibungsfläche zwischen dem Korpus und dem Kreuz.
In der Tat, der Eingerollte und Gekrümmte,
der Durchhängende ist,
angenagelt und angeschmiedet, der Freie.
Ich ahne ihn schon: den Kreuzlosen,
den, der durch verschlossene Türen geht,
der die Seinen anhaucht
mit dem heiligen Windhauch,
der freimacht, wo wir angenagelt sind.
Und nochmals: kreuzlos.
Das Kreuz ist kein Kreuz,
das Kreuz sind zwei kreuzende Längsbalken.
Nur noch eines, mitten in der Verlassenheit:
Höhe und Abgrund, der Vater und Er.
Und da sind wir drinnen, du und ich und wir.
Daß wir eins seien,
wie Vater und Sohn,
daß die Welt glaube.
Wunderbare Kreuzgeschichte dieses Bild,
das von der grenzenlosen Einsamkeit
in die Einheit führt. Der Kreuzlose aber zeigt uns die Wunde.
Johannes vom Kreuz schreibt wenige Jahre, nachdem er dieses Bild gezeichnet hat, vom Gekreuzigten: „daß er im Augenblick des Todes auch in der Seele vernichtet war, ohne irgendeinen Trost und eine Stärkung, weil der Vater ihn so sehr in innerster Trockenheit ließ … Deswegen war er genötigt zu schreien und sagte: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich ohne Stütze gelassen? Das war die größte Verlassenheit, … die er in seinem Leben je empfand. Und dadurch wirkte er in dir das größte Werk, größer als alle, die er in seinem Leben mit Wundern und Werken tat …: In Gnaden das Menschengeschlecht mit Gott versöhnen und mit ihm vereinen … so soll man das Geheimnis der Tür und des Weges Christi verstehen und erkennen, daß man sich desto mehr mit Gott vereinigt …, je mehr man sich um Gottes willen vernichtet“.1
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Johannes vom Kreuz: Aufstieg zum Berge Karmel, Buch II, Kap. 6, zit. n. Mosis, Rudolf: Der Mensch und die Dinge nach Johannes vom Kreuz (Studien zur Theologie des geistlichen Lebens 1), Würzburg 1964, 151 f.; hier von R. Mosis übersetzt nach: San Juan de la Cruz: Obras completas. Texto crítico-popolar, ed. p. Simeón de la Sagrada Familia, Burgos 1959, 2, 7, 9–11. ↩︎