Institution: Geflohen und gesucht

Hingabe der Kirche*

Weil aber diese Hingabe-Gestalt (wie wir sahen) bruchlos in die Hingabe-Gestalt der Kirche übergeht, muß sich auch in ihr die Gleichzeitigkeit von Unterbietung und Überbietung durchsetzen: im Nichts des empfangenen Brotes und Weines birgt sich das Alles der göttlichen Liebe, im Nichts des Wortes, das „in Schwachheit und Unsicherheit“ verkündet wird, wird der „Erweis von Geist und Kraft erbracht“ (1 Kor 2,3f.). Den Amtsauftrag des Gemeindeleiters formuliert Paulus haarscharf: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2 Kor 12,10), entsprechend dem, daß Christus „in Schwachheit gekreuzigt wurde, aber lebt aus Gotteskraft: so sind auch wir in ihm schwach, aber werden uns doch mit ihm aus Gotteskraft euch gegenüber lebendig erweisen“ (2 Kor 13,4).

[131] Für die ganze „Institution“ der Kirche gilt daher: je näher sie ihrem Ursprung ist, je mehr sie reine Hinnahme der göttlichen Hingabe ist, um so mehr muß sie den Schwankungen und weltlichen Anpassungen der einzelnen Subjekte und des Zeitenwandels entrückt sein. Wäre die Kirche in all ihren Gliedern marianisch, d.h. vollkommen hingegeben und aufnehmend, so würde sich die Institution erübrigen; aber dann würde sich ja auch die Selbsthingabe Gottes in Christo für die sündige Welt erübrigen; Maria bleibt in ihrer Funktion als (durchbohrte!) Mutter des Gottessohnes einmalig; damit Kirche im ganzen grundsätzlich – und jenseits des Versagens der einzelnen Glieder, ob sie selber amtlich fungieren oder durch das Amt vermittelt der Liebe Christi anhangen – „als reine Jungfrau Christo verlobt“ (2 Kor 11,2), ja „heilige und makellose“ Gattin (Eph 5,27) sein kann, ist gerade diese Widerspiegelung der Gestalt Christi in ihr notwendig. Sie muß am Ärgernis Christi teilhaben, den „überschwenglichen Schatz“ in verächtlichen Gefäßen bergen, damit jener Überschwang „nicht uns, sondern Gott zugemessen werde“ (2 Kor 4,7). Dieses Nicht-auf-den-Menschen-Beziehen muß nicht als gelegentliche Erinnerung, daß schließlich alles von Gott stammt, wach werden – etwa bei angestaunten Charismatikern und religiösen Genies –, sondern immerfort grundsätzlich auf dem Plan sein. Ohne dieses Korrektiv wäre jede Gemeinschaft, die sich von Christus herleitet, rettungslos den Verführungen ihres eigenen Geistes ausgeliefert.

So beim Wort: Schon bei Paulus ist es grundsätzlich egal, welcher Beauftragte das Wort verkündet, wie simpel oder hochgebildet der Prediger ist; er dankt Gott, daß die Gemeinde „Gottes Wort, das ihr von uns vernahmt, nicht als Menschenwort aufgenommen habt, sondern als das, was es in Wahrheit ist, als Wort Gottes“ (1 Thess 2,13). Gewiß ist für die späteren Generationen die Schrift als Norm da, an der die Variationen der „Anpassungen“ und „Verlebendigungen“ für jede Zeit ihre Grenze haben; aber die Schrift ist schließlich nicht der Vorgang zwischen Christus und der Kirche selbst, sondern bloß dessen orientierender Spiegel; das Wort wird von Christus nicht dem Buch anvertraut, sondern der je lebendigen Instanz der von ihm gesendeten Jünger.

So beim Sakrament: die Vermittlung des Amtes ist die Vermeidung der heillosen Möglichkeit, daß der Empfänger des Fleisches und Blutes Jesu oder seiner Reinigung im Wasserbad oder seiner Absolution (das alles kann man sich nicht selber nehmen, sondern nur empfangen) auf keinen Umweg über die Heiligkeit, Gläubigkeit, Vollkommenheit eines Menschen angewiesen ist, sondern durch ihn – wie immer er subjektiv beschaffen sein mag – unmittelbar die sich anbietende Gnade des Herrn empfangen kann.

So bei der Gemeinde: Fast muß man befürchten, daß je lebendiger eine Gruppe im Begegnen und Erfahren Jesu und seines Heiligen Geistes ist, sie desto leichter, ja unfehlbar der Versuchung erliegt, sich in sich selber zu [132] schließen, bestenfalls „Proselyten“ zu ihrer eigenen Mitte hin anzuwerben. „Bei uns können Sie lebendig erfahren, wie Kirche Christi im Heiligen Geist ist, machen Sie bei uns mit!“ Und schon ist es um die Universalität und Katholizität der Kirche Christi geschehen, und eine unendliche Vielfalt von Sekten wimmelt nebeneinander, die als solche unfähig ist, die Einheit der Liebe Gottes in Christo, die auf die Erlösung der einen Welt zielt, glaubhaft zu bezeugen. Die Objektivität des Amtes, der „Institution“ muß hier unerbittlich und oft sehr schmerzhaft alle Subjektivismen und „Kirchenerfahrungen“ charismatischer Gruppen aufsprengen zum reinen, universalen, nicht mehr gruppenhaft gefärbten und getrübten Empfang, zur marianischen Unbegrenztheit des Jawortes der Braut-Kirche. Diese Entsagung allein läßt die Kirche den Abstieg Christi, die „Unterbietung“ seiner Gestalt realistisch mitvollziehen. Daß das Amt an den „letzten Platz“ gestellt ist (1 Kor 4,9), wird so zur unabdingbaren Vermittlung dafür, daß die Gemeinde und jeder einzelne in ihr den von Jesus selbst angewiesenen „letzten Platz“ – den Platz Jesu – einnimmt (Lk 14,8f.).

Man wird einwenden, mit alldem sei das eigentliche Problem noch nicht getroffen. Denn Jesus sei eben eine lebendige Gestalt, die glaubhaft ist durch ihre unerhörte dauernde Beweglichkeit zwischen Hoheit und Niedrigkeit, ihre faszinierende Spannung. Die kirchliche Institution dagegen sei eine tote, erstarrte Gestalt, da sie im Gegensatz zu Jesus nicht personal gedeckt und ausgefüllt wird, sondern gerade das Klaffen zwischen Vermittlungs-Anspruch und persönlicher Glaubwürdigkeit zum Prinzip hat. Neben und hinter dem belebenden Ärgernis Christi tauche hier ein zweites Ärgernis auf, das, heute zumal, die Psychologen und Soziologen und Historiker der Religion auf den Plan rufe. Und erst hier geschehe jene Flucht vor der Institution, von der wir in diesem Aufsatz handeln.

Der Einwand hat sein volles Gewicht. Dennoch wird, wer uns bisher aufmerksam gefolgt ist, einsehen, daß er im vorigen schon seine volle Beantwortung miterhalten hat. Denn einerseits ist kirchliche Institution notwendig, damit jeder – ohne Übergriff – wirklich unmittelbar vom Ursprung empfangen, an der Ur-Gestalt teilnehmen kann. Anderseits wäre dieser Ursprung nicht mehr einzig, wenn eine andere Gestalt den gleichen Anspruch erheben könnte, in sich den ganzen Gott auszudrücken. Darum mußten die Apostel vor der Passion fliehen, mußte Petrus verleugnen und bitterlich weinen, und so gedemütigt und „traurig“ (Joh 21,17) in sein paradoxes Amt eingesetzt werden. Dieses Prägmal gilt für alle Zeiten: es ist eine Tat Jesu selbst, unlösbar von seiner eigenen Gestalt. Wenn Petrus mitgekreuzigt werden darf, so nur spiegelverkehrt. Jesus kann nicht, wie Chamissos Held, seinen Schatten verkaufen. Wir kehren zur ersten Aussage dieses Abschnittes zurück: nur durch die Kirche, ihren Glauben, aber auch ihre Struktur hindurch, kann man Zugang zu Jesus gewinnen.