Theologie als Nachfolge
Dreifacher Schriftsinn: Kurzformel von Theologie
„In allen Büchern der Heiligen Schrift gibt sich außer dem buchstäblichen Sinn, den die Worte äußerlich verlauten lassen, ein dreifacher geistlicher Sinn zu verstehen: der allegorische, der uns belehrt, was zu glauben ist von der Gottheit und Menschheit; der moralische, der uns belehrt, wie wir zu leben haben; der anagogische, der uns belehrt, wie Gott anzuhangen ist. Daher lehrt die ganze Heilige Schrift dieses Dreifache: die ewige Zeugung Christi und die Inkarnation – die Ordnung des Lebens – die Einung Gottes und der Seele. Das erste betrifft den Glauben, das zweite die Sitten, das dritte beider Ziel. Um das erste muß sich der Eifer der Lehrer, um das zweite der Eifer der Prediger, um das dritte der Eifer der Beschaulichen mühen.“1
In dieser Sicht kommt mehr zum Vorschein als ein überholtes Schema. Hier werden die Dimensionen des Wortes Gottes ausdrücklich gemacht, die nur in ihrer gegenseitigen Unterscheidung und Ergänzung Theologie unverkürzt gewährleisten: Botschaft – Gebot – Angebot; anders gewendet: Ur-kunde – Anforderung – Verheißung. Die innere Geschichtlichkeit des Wortes Gottes tritt zutage: Verkündigung dessen, was von Gott her geschehen ist, Herkunft des Glaubens aus Gottes Handeln – der Ruf Gottes zu dem, was jetzt geschehen soll, Ankunft, Gegenwart seines Wortes [121] in Entsprechung und Nachfolge – Ansage und Eröffnung dessen, was geschehen wird, Einbruch der Zukunft Gottes in unser Dasein. Die vielen Botschaften werden lesbar auf die eine Botschaft: Gott ist Sich-Geben und gibt sich uns; die vielen Gebote werden lesbar aufs eine Gebot: Nachfolge dessen, der die Liebe Gottes zu uns und unsere Liebe zu Gott ist;2 die vielen Verheißungen werden lesbar auf das eine, was geschehen soll: die ganze Gemeinschaft des ganzen Menschen mit dem ganzen Gott. Alles wird Explikation der einen Logik der Liebe: Liebe, die sich verschenkt, Liebe, die uns einfordert zur Gegenseitigkeit, Liebe, die Zweiheit wahrt und Einheit vollendet. Bonaventura gelingt so eine Kurzformel von Theologie, die nichts verkürzt und in allem den Weg zur einen Mitte freilegt.
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De reductione 5. ↩︎
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Vgl. Itinerarium IV, 5: Gottes- und Nächstenliebe „werden beide angedeutet im einen Bräutigam der Kirche Jesus Christus, der zugleich der Nächste und Gott ist, zugleich Bruder und Herr, zugleich auch König und Freund, zugleich ungeschaffenes und inkarniertes Wort, unser Schöpfer und Neuschöpfer, als Alpha und Omega“. ↩︎