Wandern mit deinem Gott

Die Vollkommenheit des „Unfertigen“

Der intellectus fidei, den Mi 6,8 enthält, ist auch ein intellectus hominis, wie wir in den fünf anthropologischen Implikationen unseres Verses entdeckten. Wie aber der immanente intellectus fidei nicht nur die Entsprechung zwischen dem eigenen Gang der Offenbarung und dem Gang des Denkens sichtbar machte, sondern auch die Grundspannung, die gegenseitige Herausforderung zwischen Denken und biblischem Gottesbild ans Licht trat, verhält es sich analog mit der diesem Text zugrundeliegenden Anthropologie. Er ist eine Herausforderung an die „klassischen“ Maßstäbe des philosophischen Menschenbildes, oder wenn wir vereinfachend typisieren dürfen, zweier einander entgegengesetzter und doch aufeinander bezogener philosophischer Menschenbilder.

Das eine Menschenbild ist jenes des Menschen, der nach dem Ganzen und Höchsten strebt, der, zur Erkenntnis des Absoluten befähigt, dieses als sein Wesensmaß hat, das es in einer vollkommenen Entsprechung einzuholen gilt. Der vollkommene Mensch: der Mensch, der Gottes Bild dadurch ist, daß er, unter den Bedingungen freilich der Endlichkeit, die Eigenschaften Gottes in die Welt hinein wiederholt. Der vollkommene Mensch: der Mensch, dessen Leben im Versuch der Annäherung an das Idealbild göttlicher Vollkommenheit besteht.

Das andere, entgegengesetzte Menschenbild: der Mensch in der Jeweiligkeit seines Entwurfs, seiner von ihm selbst je neu zu setzenden, aber auch neu zu überholenden Maßstäblichkeit, die je nur „Arbeitshypothese“ seiner Freiheit ist. Auf der einen Seite also der Mensch, dem das Erreichen, auf der anderen Seite der Mensch, dem das Streben das Höchste ist; auf der einen Seite der Mensch, dem ein festes und unbedingtes Maß gesetzt ist, auf der anderen Seite der Mensch, dem das Maß allein im unabsehbaren Gang seiner selbst erwächst.

Beiden Bildern steht das Menschenbild von Mi 6,8 entgegen, beiden ist es freilich auch verwandt. Der Ausgangspunkt des Menschenbildes bei Micha ist der Bund, jenes zweieine Verhältnis des Menschen zu Gott und zum Mitmenschen. Im Bund waltet Treue, also Beständigkeit. Im Bund läßt sich Gott auf den Menschen ein und ruft Gott den Menschen zu sich, in sein Maß hinein. Es gibt ein dem Menschen vorgegebenes, nicht von ihm allein abhängiges Maß, es gibt ein Bleibendes und Währendes, es [250] gibt die Vollkommenheit, eben jene der lauteren und ganzen Entsprechung zwischen Mensch und Gott, Mensch und Mitmensch in der Bundestreue.

Auf der anderen Seite aber ist der Mensch Wesen des Weges, des Jeweils, der unabschließbaren Bewegung, die nie überholt wird durch einen Status der Abgeschlossenheit, des Fertigseins, des Stehens in sich. Beziehung bleibt das letzte.

Kennzeichnend ist also die Vollkommenheit des Weges, die Beständigkeit einer Beziehung, die, nie am Ende, immer neu, von ihrem Wesen her „unfertig“ ist und nur so gelingen, sich selbst einholen kann. Dem bloßen Vollkommenheitsideal widerstreitet das Weghafte einer beständigen Wanderschaft eines je neuen Hörens auf und Sich-Vernehmens aus Gottes Ruf. Der bloßen Jeweiligkeit, dem fundamental Unfertigen einer sich selbst aus sich selbst vollbringenden Freiheit widerspricht die Beständigkeit der Beziehung, die Absolutheit der Weggenossenschaft, die zwar nie den Wegcharakter aufhebt, in ihm aber gerade das Endgültige, Unbedingte, Vollkommene festmacht.

Auch am Ziel ist das Wandern mit unserem Gott nicht am Ende, doch führt das Wandern mit Gott in jene Ruhe in ihm, die uns vollendet, vollendet aber im ewigen Gespräch, das als ewiges nie alt, sondern immer Aufbruch zueinander, ins Miteinander bedeutet.

In wanderndem Vollendetsein in Gott und vollendetem Wandern mit Gott sind aber die anderen, die Weggenossen nicht draußen, sondern sie sind in solchen Aufbruch und solche Ruhe mit einbezogen. Das, was uns bereits verkündet ist, ist uns zugleich verheißen, der zu erinnernde Grund ist das zu erhoffende und erstrebende Ziel: „Gerechtigkeit üben, den Brudersinn lieben und in Dienmut wandern mit deinem Gott.“

Gewiß ist solche Anthropologie nicht vom menschlichen Nachdenken und von der menschlichen Selbsterfahrung her erstellt und konstruiert, sondern aus Gottes vollmächtigem Bundeswort uns zugewiesen und erhellt. Aber in solcher Zuweisung und Erhellung vermögen wir zu entdecken, daß wahrhaft wir dieser Mensch sind, daß es der Ruf unseres Seins und Wesens ist, in solchem doppelten Mitsein miteinander und mit Gott auf dem Weg zu sein. Wie uns in der Herausforderung der Offenbarung das Denken aufging als Gedenken der Zueignung des Denkens an sich selbst aus dem Geheimnis, so kann uns aus der hörenden Annahme einer Anthropologie des Bundes aufgehen, daß von sich selbst her der Mensch eben dies ist: Bund.

Gott, das Denken und der Mensch geben sich zu glauben und zu denken aus jener Botschaft, die Mi 6,8 uns zuspricht.