„Nächte, die Licht geben“
Die Nacht – eine Metapher
Das Charakteristische der drei skizzierten Begebenheiten würde nicht deutlich, wenn sich der Blick allein auf den chronologischen Aspekt der Nacht richtete. Viel eher muss die Nacht als Metapher für eine „experience humaine universelle“ 1, eine allgemeine menschliche Erfahrung gelesen werden.2
Sie wird weitestgehend negativ verstanden als Erfahrung der Abgründigkeit und der Trübsal, des Elends und der Verzweiflung3, ohne dass die positive Interpretation der Nacht als einer Zeit der Stille und Stärkung, des Schutzes und der Ruhe außer acht gelassen werden darf. Diese Spannung von Negativem und Positivem in der Deutung dieser Metapher findet sich auch in der christlichen Tradition, die mit dem Bild der Nacht sowohl eine Erfahrung des Wartens und der Anfechtung, der Angst und der Gottesferne beschreibt, als auch einen besonderen Ort der Gottesoffenbarung und Gottesunmittelbarkeit verbindet.4
Auch Hemmerles Reflexionen nächtlicher Erfahrung sind von dieser grundlegenden Ambivalenz gekennzeichnet. Sein Leben sei „gespannt zwischen einem Traum und einem Erschrecken“5, schrieb Hemmerle mit Blick auf die Zerstörung Freiburgs 1944. Alle lebensgeschichtlichen ,Nacht-Ereignisse‘ Hemmerles sind abgründige Krisenerfahrungen: der Verlust der Heimat und die Zerstörung des Sinnhorizontes, der radikale Zweifel sowie die vollkommene Fraglichkeit der Gottesbeziehung. Die Nacht erscheint als Metapher für die „Bilder des Sinnlosen, [für] zerbrochene Zusammenhänge, Schrecklichkeiten, die den Atem blockieren, bare Finsternis“6. Aber sie ist zugleich ein in die Zukunft weisendes Bild des in der Nacht aufgehenden Lichts, das Hoffnung schenkt. Nicht nur der Charakter des Krisenhaften und Aporetischen, sondern auch die Erkennt-[116]nis, dass sich in dieser Krisis ein neuer Sinn eröffnet, ist den Erfahrungen gemeinsam: das Bild des Unzerstörbaren in Gestalt des Münsterturms als Symbol der Hoffnung, das neue Verständnis des Priesterseins als wegweisende Zukunftsperspektive und die von unmittelbarer Nähe getragene und zugleich das Geheimnis wahrende Gottesbeziehung. Die Einsicht, dass es in aller Zerstörung, in allem Schrecklichen auch etwas gibt, „was nicht zerstörbar ist und was wahrhaft zählt“7 verdankte Hemmerle der Begegnung mit dem Schriftsteller Reinhold Schneider während des Zweiten Weltkrieges. „Reinhold Schneider las die soeben (1942) von ihm verfaßte Erzählung ‚Die dunkle Nacht des heiligen Johannes vom Kreuz‘. Ich konnte es an dieser Gestalt greifen, die leibhaft widerspiegelte, was sie sprach: Im äußersten Leiden, im Durchgang durch die Nacht, in der Auslieferung ans Heilige lebt eine Wirklichkeit, die hält und trägt, wenn alles zerbricht.“8 Mit Johannes vom Kreuz und Reinhold Schneider sind zwei Autoren genannt, deren Leben und Werk in herausragender, aber unterschiedlicher Weise von der Erfahrung der Nacht bestimmt sind. Beide haben Hemmerle in seinem Denken und Glauben maßgeblich geprägt.
Neben der Ambivalenz von Schrecklichem und Gnadenhaftem der Nacht, oder – um mit Johannes vom Kreuz und Reinhold Schneider zu sprechen – dem „Ineinanderverwobensein der beiden Nächte“9, der „Nacht des Grauens“ und der „Nacht des Heils“, findet sich in Hemmerles Schriften noch ein anderer Aspekt der Nacht-Metapher, der eng mit dem ersten verbunden und maßgeblich durch die theologia mystica des Johannes vom Kreuz geprägt ist.
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M. Dupuy, Art. Nuit, in: Dictionnaire de Spiritualité Bd. 11 (1982), 519–525, hier 519. ↩︎
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Hemmerle selbst gibt mit seiner Erwähnung des kleinen Erzählungsbandes „Die dunkle Nacht“ von Reinhold Schneider, in dessen Zentrum die Geschichte „Die dunkle Nacht des heiligen Johannes vom Kreuz“ steht, den Fingerzeig für eine solchen Interpretation der Nacht als Metapher existentieller Erfahrung. ↩︎
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Vgl. J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. 7, bearb. v. M. von Lexer, Leipzig 1889, Nachdruck, München 1984, 145–167. ↩︎
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Vgl. hierzu die umfassende Studie von St. Lüttich, Nacht-Erfahrung. Theologische Dimensionen einer Metapher, Würzburg 2004; A.M. Haas, „Die Arbeit der Nacht“. Mystische Leiderfahrung nach Johannes Tauler, in: G. Fuchs (Hrsg.), Die dunkle Nacht der Sinne. Leiderfahrung und christliche Mystik, Düsseldorf 1989, 9–40. ↩︎
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K. Hemmerle, AS V, 293. ↩︎
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Ders., AS V, 306; vgl. ders., AS V, 294f. ↩︎
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Ders., in: Neue Stadt 21 (1978), 26. ↩︎
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Sicherlich lässt sich kritisch einwenden, ob Hemmerle hier nicht seine Lebenserfahrung mit dieser Deutung im Nachhinein stilisiere. Dieser Einwand lässt sich nicht gänzlich, aber doch wenigstens im Ansatz entkräften, indem man auf Hemmerles selbstkritische Reflexion verweist: „Es kostete viel denkende Mühe, über lange Jahre hinweg, die bohrende Gegenfrage zu bestehen: Bist du da wirklich der Wahrheit begegnet? Haben nicht andere ähnlich Erfahrungen gemacht? Was gibt dir das Recht, dich ganz und gar auf diese Richtung für dein Leben zu verlassen?“ (AS V, 293) ↩︎
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R. Schneider, Die Nacht des Heils, a.a.O., 121. ↩︎