Die Stunde des Neubeginns

Die Maxime

Die Entfremdung zwischen Wort und Leben, Wort und Bildwelt unseres Lebens verlangt nach einer neuen „Armenbibel“. Diese kann nicht aus Bildern gemacht, sie muß mit dem Leben geschrieben werden, mit unserem Leben, das wir, jeder einzelne persönlich, aber einer auf den anderen zu, gemeinschaftlich leben. Die „neue Bibel“ sind wir. Dies meine ich nicht im Sinne einer konstatierenden Feststellung, sondern im Sinne eines Anrufs, einer Provokation: nicht als ob wir schon so wären, aber wir müssen und können so werden. Zudem sind die Armen, denen die Botschaft des Evangeliums gilt, nicht bloß und nicht zuerst „die anderen“, die wir oft als Fernstehende oder Ungläubige apostrophieren, sondern wir, die wir Christen sein wollen.

Wie ABC-Schützen müssen wir wieder lernen, das Evangelium zu buchstabieren. Der Schlüssel zu seinem Verständnis ist aber nicht die Spekulation, auch nicht die Meditation allein, sondern unser Leben samt unseren gegenseitigen Beziehungen. Mit unserer Existenz müssen wir das Evangelium Zug um Zug zunächst für uns selber entdecken und erproben. Dann kommt es auch für andere zum Leuchten und spricht sie an. Chiara Lubich faßt diese Provokation in den Satz: „Nehmen wir einmal an, es gäbe auf der ganzen Welt kein Exemplar der Heiligen Schrift mehr, dann müßten die Menschen an unserem Leben das Evangelium ablesen und neu schreiben können: ‚Selig, die ihr jetzt weint ...‘ (Lk 6,21) – ‚Selig die Barmherzigen ...‘ (Mt 5,7) – ‚Richtet nicht!‘ (Lk 6,27).“_1 Dieses Wort meint im Grunde dasselbe wie die Aufforderung _Johannes Pauls II., der Christ solle _„ein lebendiger Katechismus“_2 sein, ein offenes Glaubensbuch.

Eine solche Provokation ist nicht zu verwechseln mit der moralischen Aufforderung, die selbstverständlich und immer gilt: Nur wenn wir auch leben, was wir glauben, lassen sich Menschen überzeugen. Es geht nicht um die bessere Durchschlags- und Überzeugungskraft eines auch in sich selbst zugänglichen Wortes. Vielmehr muß der Zugang zum Wort des Evangeliums allererst gebahnt werden. Das Evangelium kommt erst zum Klingen und wird erst anschaulich, indem es Leben gestaltet und so zur Antwort auf elementare Fragen wird, die sich Menschen aus der Grundsituation unserer Epoche stellen. Diese Antwort finden sie in einem „Bild“, im Bild eines verwandelten und erneuerten Lebens, einer verwandelten und erneuerten Gemeinschaft. Daß dieses Bild immer über sich hinausweist, weil es nicht die Wirklichkeit, die es zeigt, ganz einholt, liegt auf der Hand. Dieselbe fundamentale Differenz waltet auch zwischen dem Wort und dem, was es bezeichnet – eine Differenz, die auch vom Wort des Dogmas, ja sogar von der Offenbarung selbst nicht einholbar ist. Worauf es mir ankommt, ist die Entdeckung der neuen „Bildwelt“ von Leben und Beziehung und ihr Ernstnehmen als geradezu unverzichtbaren Zugang zum Evangelium. Man könnte gegen die Neuheit dieser Sicht ins Feld führen, daß schon die Kirchenväter um den Zusammenhang zwischen Leben und Gemeinschaft einerseits und Verstehbarkeit des Evangeliums [9] andererseits wußten. Dennoch ist an unserer Situation völlig neu, daß ein vormals prägendes und „inkulturiertes“ Evangelium in unserer Welt immer mehr „dekulturiert“ erscheint und einer neuen Inkulturation bedarf, die nicht eine bloße Wiederholung der alten sein kann.


  1. Lubich, Chiara: Einheit als Lebensstil, München 1989, 65. (italienische Originalsausgabe: Tutti siano uno, Rom 1969, 96) ↩︎

  2. Apostolisches Schreiben „Catechesi tradendae“ (Schlußabschnitt): Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 12, Sekretariat der dt. Bischofskonferenz, Bonn 1979, 66. ↩︎