Wegmarken der Einheit

Die höchste Offenbarung des Gottes, der die Liebe ist: Jesus der Verlassene

[28] Ein Bischof hat vor einiger Zeit zu mir ein Wort gesagt, das ich nicht vergessen kann, zumal wenn ich an den Kontext seiner persönlichen und pastoralen Erfahrungen denke – seine Diözese ist eine der ärmsten überhaupt, mit unglaublicher menschlicher, sozialer, geistlicher Not, und er hatte sie vom Nullpunkt an aufzubauen. Das Wort lautet: „Der verlassene Jesus, das ist die größte Entdeckung des 20. Jahrhunderts.“

Sicher, schon immer hat es zum Grundbestand christlichen Glaubens gehört: Da Jesus die Seinen liebte, liebte er sie bis zum Äußersten (vgl. Joh 13,1). Er trägt all unsere Last, begleitet uns bis hinein in die äußerste Gottesferne und Gottesverlassenheit, indem er sie ausleidet und mitleidet am Kreuz. Doch immer wieder geschieht es in der Kirchengeschichte: Wahrheiten, die bekannt sind und immer gelten, erhalten plötzlich eine neue Leuchtkraft, sie scheinen auf wie zum ersten Mal, eröffnen uns einen neuen Weg des Verstehens und Lebens. Weshalb ich nun glaube, daß die Liebe zu Jesus, dem am Kreuz Verlassenen, und das Leben mit ihm nicht nur ein Punkt der Spiritualität des Fokolar sind, sondern eine geschichtlich für das Christsein und die Kirche insgesamt höchst bedeutsame „Entdeckung“, das möchte ich im folgenden ein wenig entfalten.

Ich gehe zum ersten aus von der menschlichen und von der göttlichen Grundtendenz zum „Mehr“, zum magis und maius. Aus dieser Tendenz heraus erhält das Sprechen von und das Leben mit Jesus dem Verlassenen seinen theologischen und anthropologischen Kontext. In einem zweiten Teil möchte ich sodann in knappen Strichen den geschichtlichen [29] Hintergrund aufreißen, auf dem die „Entdeckung“ von Jesus dem Verlassenen ihre Leuchtkraft für unser Jahrhundert gewinnt. Im dritten Teil, der das Hauptgewicht hat, möchte ich sodann interpretierende Hinweise auf einen Grundtext von Chiara Lubich über Jesus den Verlassenen geben, der zum theologischen Gehalt, zur geistlichen Tiefe und zur konkreten Konsequenz dieser geistlichen Erfahrung und Lehre prägnant hinführt.