Fragen nach Gott
Die andere Seite des Befundes
4.1 Die Situation der Gottesfrage in unserer Zeit wäre nur halb gekennzeichnet, kämen bloß die Konsequenzen zur Sprache, zu denen hin sich der methodische Ansatz neuzeitlichen Denkens im gegenwärtigen Bewußtsein vollstreckt hat. Schon eingangs war die Rede davon: Die Frage nach dem Sinn, die Frage nach dem, was sich nicht im Können, Machen und Planen erschöpft, bricht vielgestaltig, undeutlich, aber leidenschaftlich wieder auf. Was hat diese Frage mit der Frage nach Gott zu tun? Wo ergeben sich Kontraste, wo Anknüpfungspunkte?
Die Frage, die lange Zeit als die klassische Form der Gottesfrage galt, bewegt den Menschen nicht mehr: die Frage nach der causa efficiens, nach dem alles gründenden Woher. Sicherlich fällt diese Dimension nicht einfachhin aus, die ungeheuerliche Bemühung, wissenschaftlich Kausalitäten aufzudecken, spricht dafür. Doch die Kausalfrage bleibt zusehends im Ontischen, in den im- [25] manenten Abhängigkeiten innerhalb der „Klammer“ des Vorfindlichen, Meisterbaren, Reduzierbaren befangen. Das lange so populäre Argument, es müsse doch einen Weltbaumeister geben, der diese ungeheuerlich vielfältig verfügte Weltmaschinerie in Gang gebracht habe, interessiert den Menschen wenig mehr, der in der Hektik der Angst um sein eigenes Dasein und in der Hektik der Gestaltung dieses Daseins nicht mehr nach anderen Gründen fragt, sondern selber Grund sein will für das, was geschieht, Grund für seine eigene Zukunft.
Wohl aber bricht ihm eine andere Frage neu auf, und zwar desto dringlicher, je perfekter er alles, was ist und was geschehen kann, in seiner Hand hat: es ist die Frage des „Was dann“? Wohin läuft alles? Es ist die Frage nicht nach einer zeitlichen Eschatologie, sondern die Frage nach der inneren Zukunft seiner selbst und seiner Welt, wenn alles ins Planbare, Machbare, Verfügbare hineinverwandelt sein wird. Wenn der Mensch alle Strukturen humanisiert, alle Aggressionen domestiziert, alle Potenzen des Weltalls ausgeschöpft, alle Gesetzmäßigkeiten von Psyche und Gesellschaft rationalisiert hat, was hat dann seine Freiheit noch zu tun? Wohin läuft sie selbst, eingesetzt in ihre eigene Allmacht? Gewiß gibt es Grund genug zur Einrede gegen das Traumkonzept des totalen Vermögens, der restlosen Planbarkeit der Zukunft. Doch die Unheimlichkeit, den Sinn des Ganzen nicht zu vermögen, bricht nicht erst dort auf, wo der Mensch an die äußeren Grenzen dieses Vermögens stößt. Je grandioser und umfassender dieses Vermögen sich bestätigt, desto härter wird seine innere Grenze spürbar. Der Mensch erfährt sich gerade in einer durchrationalisierten Gesellschaft als der Sklave seiner selbst, als der Gefangene seiner eigenen Konzepte, als der Unfreie, der gegen den Apparat und seine Zwänge, die Zwänge des Konsumierens und Leistens, des Funktionierens und der beständigen Steigerung seiner Möglichkeiten, zu revoltieren gedrängt ist.
Um zu dem Bild zurückzukehren, das uns für die Entwicklung der Gottesfrage im neuzeitlichen Bewußtsein kennzeichnend zu sein schien: Der Mensch, ja die Menschheit ist in der Klammer eigenen Könnens und Vermögens eingesperrt, diese Klammer be- [26] schwört eine unheimliche Schicksalsgemeinschaft aller mit allen herauf, aber diese universale Klammer, die alles von Gnaden und nach Gesetzen menschlichen Geistes sein läßt, diese Klammer, in der „alles drinnen“ ist, gleicht einem Raumschiff, aus dem es kein Aussteigen und für das es keinen Landeplatz mehr gibt.
4.2 Die innere Problematik der Freiheit erscheint so als die Grundfrage des Menschen von heute. Die Situation der Freiheit ist paradox. Theoretisch kann der Mensch, der nur das Sicherbare, Feststellbare gelten läßt, seine eigene Freiheit überhaupt nicht sicherstellen, er entdeckt sich und alles in immer mehr Determinationen befangen. Das hindert ihn aber nicht daran, Freiheit als höchstes und unverzichtbarstes Gut zu postulieren und gegen jegliche Determination zu protestieren – zuletzt und am radikalsten freilich dagegen, daß er sich selber immer neue Determinationen auferlegt. Er fühlt sich in einem Zwang, Determinationen zu vollstrecken oder Determinationen zu entwerfen, die wiederum er vollstrecken muß, er als der Planer der Gesellschaft und der Welt und er als der Vollstrecker seiner Planung. Sein Geschäft wird es daher, in der eigenen Planung sich immer wieder neue Freiheitsräume zu erkämpfen.
Aber was geschieht mit diesen Freiheitsräumen, wozu ist der Mensch in ihnen frei? Gerade dann, wenn er Freiheit im Höchstmaß gesichert hat, wenn er seine Planungen eingelöst hat, wenn er alles, was ist, und alles, was zu tun ist, in seine Selbstbestimmung eingebracht, sich selbst von Fremdbestimmung befreit hat, droht seine Freiheit selbst für ihn wie eine sinnlose Fremdbestimmung zu werden. Sie läßt ihn mit sich allein, er hat sich sein Wohin, er hat sich sein Außerhalb, er hat sich sein Gegenüber genommen, er ist alles in allem – aber gerade darin bodenlos und resonanzlos mit sich selbst allein. Freiheit bleibt nur frei, ja wird nur frei, wo sie in Rede und Antwort, wo sie in Partnerschaft zu anderer Freiheit steht, Freiheit ist nur im Gespräch zwischen Freiheit und Freiheit. Was der Mensch zutiefst sucht, indem er nach einem alles gewährenden Sinn sucht, ist eine unbedingte Freiheit, die ihn frei läßt, ihn anredet, ihn hört.
[27] 4.3 Diese Frage der Freiheit nach der Freiheit, die sie gewährt und erfüllt, dürfte am ehesten der Einstiegsort für die Frage nach Gott in unserer Situation sein. Hier fragt der Mensch nicht mehr nur nach einem Absoluten, das erklärende Voraussetzung des eigenen Fragens, Zielprojektion des eigenen Entwerfens oder oberste Norm des eigenen Handelns wäre, das den Menschen aber in seinem Denken, Entwerfen und Handeln letztlich mit sich allein ließe; hier fragt der Mensch vielmehr nach dem, der ihn selber fragen, beschenken, in Anspruch zu nehmen vermag. Ich möchte von jemand gefragt werden, und ich möchte jemandem antworten. Menschliches Dasein ist nur als gefragtes und antwortendes ganz menschlich. Als es selbst gefragt, als es selbst in seiner Antwort enthalten aber findet es sich nur in der Partnerschaft mit der unbedingten Freiheit.
Wie aber soll die Freiheit, die sich allein findet, mit sich in ihrer Sinnfrage, diesen unbedingten Partner finden, wie kann sie sich dessen sicher sein, daß es diesen Partner gibt? Zwischen Freiheit und Freiheit gibt es im Grunde nur eine Weise der Vergewisserung: die Begegnung, in der die Partner sich einander lassen, sich einander geben und einander annehmen. Das heißt aber, daß unbedingte Freiheit sich der menschlichen Freiheit schon geben, sich schon von sich her ihr zeigen müßte, daß dieser Gott also sprechen, einfachhin aus sich dem Menschen aufgehen und ihn angehen müßte, damit dieser weiß, daß er nicht nur von unbedingter Freiheit träumt oder gegen eigene Unfreiheit protestiert. Daß solche unbedingte Freiheit aber den Namen Gottes trägt, daß jener, der nach der Gewähr seiner Freiheit fragt, wissen kann, daß er nach Gott fragt, hängt seinerseits davon ab, daß Gott sich menschlicher Freiheit gibt. Wie aber soll er sich ihr geben, wie soll er in die verfugte Klammer menschlichen Alleinseins mit seinen eigenen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eindringen? Zuletzt und zuhöchst muß das Gott selbst, seiner Freiheit freigestellt bleiben, daß er die Wege seiner Transzendenz ins Menschliche findet, wenn diesem Dasein die Transzendenz von innen her vermauert scheint. Und doch darf eine menschliche Vermutung ausgesprochen werden, die mehr als bloße Vermutung ist – zumindest für den Chri- [28] sten, der diese Vermutung bestätigt findet in seiner eigenen Sendung: Es muß Menschen geben, die Gott in ihrem Leben fragen und sich von Gott gefragt wissen, Menschen, die Zeugnis geben von ihrer Beziehung zu Gott, Menschen, die ihre Freiheit in Partnerschaft zur unbedingten Freiheit leben. An ihrem Zeugnis können die Anlässe im Leben des Menschen von heute überhaupt wieder sprechend werden, können sie dem Mitmenschen angeboten werden als das Sprungbrett für seine eigene Frage nach Gott und für den Einstieg in die Beziehung zu Gott. Das freilich ist eine Verantwortung für die Christen und weist über alle wissenschaftliche Bemühung hinaus, wenngleich es sie keineswegs überflüssig oder sinnlos macht.
4.4 Auf eine Gestalt der Frage nach Gott ist unser Gedanke noch nicht zu sprechen gekommen: sie trägt klassischerweise den Namen der Theodizee, und sie wird – man denke an Hiob oder Jeremia – auch im Glauben zur Frage, zur Frage an Gott. Gerade auch die heutige Verdunkelung Gottes drängt Christen immer wieder zur Frage: Warum, Gott, machst du es uns nicht einfacher? Warum beantwortest du so viele Fragen nicht, warum lösest du so viele Rätsel nicht? Aber gegeben der Fall, daß Gott diese Antworten bereithielte oder durch kluge Theologen bereitlegte, so daß dann alles aufginge, was geschähe dann? Man hätte seine Antworten, man hätte alles begriffen, man hätte auch noch seinen Gott hineinverstaut ins selbstgemachte Gehäuse eigener Welterklärung – und man wäre mit diesem Proviant Gottes doch wiederum nur bei sich, nur allein mit sich. Wo Menschen sich lieben, bleiben immer Fragen offen, aber Fragen, die offenbleiben dürfen, weil gegenseitiges Vertrauen da ist. Liebende verteidigen sich nicht, sondern Liebende sind da. Auch bei Gott ist es so: er ist dort um so deutlicher und überzeugender da, wo Menschen, die ihm glauben, bereit sind, ihm auch noch ihre Fragen zu verschenken. Und wenn sie ihre Fragen an Gott verschenken und sich von ihm fragen lassen, dann gerade geben sie der Freiheit des Menschen, die nach ihrem Sinn fragt, jenes Zeugnis, das sie wiederum fragen läßt nach Gott.