Reinhold Schneider, Der Turm des Freiburger Münsters

Der Turm im Gedicht

Es war notwendig, diese Struktur des Bauwerks zu vermerken, damit der, „Adressat“ des Gedichts, der zugleich sein „Sujet“ ist, und damit zugleich die immanente Struktur des Gedichtes sichtbar werden.

Wenden wir uns nun in knappen, zum Ausziehen der Linien einladenden Strichen dieser Struktur zu.

Zunächst achten wir auf das Verhältnis der vier Strophen, aus denen, ganz nach der Regel, das Sonett sich zusammensetzt. Die erste und die vierte Strophe handeln vom Münsterturm aus Stein, dem freilich zugleich ein Standort im „Gemüt“ des Beschauers (erste Strophe), in seiner Liebe (vierte Strophe) zugewiesen wird. Die zweite und die dritte Strophe handeln vom Dichter selbst als einem Turm. In der liebenden und die Botschaft ins Gemüt nehmenden Zuwendung zum Turm geht seine Botschaft, geht sein Wesen über in den Dichter selbst als Auftrag und Schicksal. Wir gewinnen ein erstes Schema der vier Strophen: 1. Turm, 2. Dichter, 3. Dichter, 4. Turm.

Dieses Schema muß durch ein zweites ergänzt werden. Die Situation, in die das Gedicht führt, ist: der Turm zwischen Stehen und Fallen, der angefochtene Turm. In dieser Perspektive haben die Strophen die Abfolge: 1. Stehen (der stehende Turm), 2. Stehen (der zum Standhalten gerufene Dichter), 3. Fallen (das mögliche Fallen des Dichters, dessen Sinn es wäre, daß andere Türme aufstehen), 4. Fallen (die Verheißung, daß der Turm nicht fallen wird, verbunden mit der Perspektive auf das Endgericht Gottes, in dem er einem neuen und endgültigen Stehen anheimfallen wird).

Der formale Vergleich der zwei kontrastierenden Schemata, deren erstes die erste und vierte, die zweite und dritte Strophe, deren zweites die erste und zweite, die dritte und vierte Strophe zusammenspannt, öffnet die innere Dramatik des Gedichtes, die zwei Grundverhältnisse zueinander ins Verhältnis setzt: der Turm „Turm“ und der Turm „Dichter“ – Stehen und Fallen.

Vergröbernd gefaßt: Der Dichter kann dieses vom Fallen bedrohte Stehen des Turmes nicht einfach stehenlassen, son- [68] dern muß sich ihm stellen. Was das Stehen des Turmes bedroht, erfordert gerade das Stehenbleiben seiner Botschaft – und dieses Stehenbleiben fordert den Dichter. Bei diesem Standhalten droht ihm aber das Fallen, der Untergang. Doch der Sinn dieses Untergangs ist, daß Türme ragen und das Volk selbst, das Volk als Ganzes, wird, was der Turm ist: „brennende Fackel“. Die Botschaft des Turmes ist so stark, daß ihm das Stehenbleiben verheißen wird, aber dieses Stehenbleiben ist umfangen von der Hinfälligkeit alles Innergeschichtlichen, auch des Höchsten und „Bleibenden“. Doch diese Hinfälligkeit fällt in die Hände dessen, in dem das, was wahrhaft ist, nicht untergehen kann, sondern in einen ewigen Stand hinein erneuert wird.

Diese Dynamik entfaltet sich in den fünf Wortfeldern, die, zum Teil sich überschneidend, aber insgesamt auf fünf zentrierende Punkte weisend, den gesamten Bestand des Gedichtes prägen.

Zuerst ist das Wortfeld zu nennen, das, am breitesten angelegt, das Was und Warum der gezeichneten doppelten Spannung ins Spiel bringt. Es hat mit Tag, Herrlichkeit, Licht und den vielen zuzuordnenden Verben wie Gegenbegriffen zu tun. Wenn die Sonne denen nicht mehr sichtbar ist, die auf dem Erdboden stehen, dann schaut der ragende Turm noch ihr Licht und bewahrt es in seinem Gestein als bezeugendes Nachleuchten auf. Ein Geschichtstag der Glaubensmächtigkeit ist vergangen, aber er kann und darf nicht untergehen, sondern braucht Türme, die sein Licht wahren und ausstrahlen, so daß neuer Tag werden kann. Darum geht es in Stehen und Fallen, das verbindet den Auftrag des Dichters mit dem des Turmes.

Ein zweites Feld, schmaler, aber in aller Sparsamkeit prägend, umfaßt die Worte Beter, Gebete, bitten. Das Turmsein, das Wahren des Lichtes und Harren ins Licht hinein geschieht als Gebet, als Reichen in jene Höhe, in welcher das Licht sichtbar und weitergegeben werden kann ans Ganze. Nicht umsonst ist am Anfang und am Ende des Gedichtes von den Betern und den Gebeten ausdrücklich die Rede. Der Ernst, der diesem Beten eignet, wird an zwei äußerlich dieses Feld überschrei- [69] tenden Worten sichtbar, die von innen her ihm zuzuordnen sind. Auf der einen Seite ist es das Wort „Opfer“, das uns zeigt, bis wohin Beten den Beter in Anspruch nimmt. Zum andern ist es das Wort „mein Volk“, das den für Reinhold Schneider so elementaren stellvertretenden Charakter betender Existenz, die Geschichtsmacht und Geschichtsbezogenheit des Betens kennzeichnet.

Ein drittes Wortfeld nennt die Wirklichkeit, die im Strahlen und Leuchten, in der Herrlichkeit aufgeht und der Gebet und Opfer, Stehen und Fallen zu dienen haben: das Heilige und die Wahrheit. Die Aussagen, in denen diese Worte vorkommen, beziehen sie auf die Grundphänomene des ersten Wortfeldes, das in Licht und Tages Herrlichkeit zentriert ist. Das Heilige, das der Turm ausstrahlt, soll vom Dichter gehütet werden. Jenes Licht, jene Herrlichkeit, die entschwunden sind und die im Turm noch ihre Stätte haben, in ihm uns anblicken, geben sich der Hut des Dichters anheim. Sie werden als Heiliges bezeichnet, somit als dem eigenen Verfügen und Berechnen und zumal der eigenen Selbstherrlichkeit entzogene Wirklichkeit. Der dieses Heilige ausstrahlende Turm will, auch noch wenn der Dichter fallen sollte, weitergehen in anderen ragenden Türmen, und das heißt: im Volk, das sich als „der Wahrheit Fackel“ bewährt. Es geht dem Dichter nicht um versunkene Träume, die durch neue Wirklichkeitserkenntnisse überholt werden könnten, sondern um jene Wahrheit, die in der Selbstmächtigkeit verdunkelt wird. So führt vom Heiligen und der Wahrheit der Weg hinüber zur letzten Strophe, wo von des Richters Blitzen die Rede ist. Im Leuchten der scheinbar versunkenen Wahrheit künden sich die Lichtzeichen der endgültigen, alles entscheidenden Wahrheit, die Blitze des Richters an. Nicht umsonst hat Reinhold Schneider das Gedicht über den Freiburger Münsterturm in die Sammlung „Apokalypse“ eingefügt.

Ein viertes Wortfeld hat mit diesem Apokalyptischen zu tun. Es ist da die Rede von Streit und Dunkelheit, vom großen Sturm. Wie ernst das ist, worum es im Leuchten des ragenden Turmes geht, würde nicht deutlich, wenn Licht und Dunkelheit nur auf den Rhythmus von Tag und Nacht bezogen wür- [70] den. Es geht um Sein und Nichtsein, um Stehen und Fallen, somit aber um eine Anfechtung und Gefährdung, die in die Grundfesten reicht. Es ist deutlich, daß in den Gefährdungen, welche die Frage überhaupt aufkommen lassen, ob der Turm überdauern wird, eine zweifache Tiefe aufbricht: In dem, was die Unsicherheit provoziert, ob dieser Turm standhalten wird, sind jene Mächte am Werk, die nicht nur das Bauwerk, sondern das Licht selber bedrohen, das dieser Welt das Leben gibt. So aber walten in diesem Sturm und Streit auch die Boten dessen, der kommen wird, die Welt zu richten und im Gericht zu vollenden.

Um Stehen und Fallen geht es so im Ganzen. Das Wort „Steh“ ist nicht umsonst das erste Wort des Gedichtes, das entsprechende „Steig“ der Anfang seiner letzten Zeile. Um Stehen und Fallen gruppiert sich ein fünftes Wortfeld. Es ist reich bestückt, um das mit Stehen Gemeinte zu orchestrieren: unerschüttert, hüten, Träger, ragen, steigen. Auf der Gegenseite treffen wir nur auf das eine Wort: fallen, allenfalls begleitet vom Zerschlagen, in welchem die Blitze des Richters wirken, und von Opfer, dem Wort, das allen Wortfeldern zugeordnet werden und sie erläutern kann, abgesehen vom ersten; doch gerade dort bildet es den heimlichen Hintergrund des Ganzen. Beim Blick auf dieses Wortfeld werden wir einer weiteren Ungleichmäßigkeit zwischen Stehen samt dem, was ihm zuzuordnen ist, und Fallen gewahr: Stehen hat die Doppelbedeutung von faktischem Bestand, und verantwortlicher Haltung, die Widerstand gegen das Böse und Überragen des Niedrigen in die Sphäre des Heiligen und der Wahrheit hinein verbindet. Fallen aber kommt nicht im Sinn der Untreue vor, sondern nur in jenem des geschickhaften Untergangs. Dieser selbst aber hat hier eine doppelte Bedeutung. Zum einen ist das Fallen Schwächersein; wer fällt, fällt dem Stärkeren zum Opfer. Doch gerade zum Opfer zu fallen weist in eine verborgene, am Ende offenbar werdende Stärke und Fruchtbarkeit hinein: Opfer wird zur Bedingung für den endgültigen Sieg des Heiligen und der Wahrheit, für ihre größere, wenn auch „andere“ Macht, die aber am Ende die bloße, nackte Macht einholen und überholen wird. Der Turm steht und wird stehenblei- [71] ben – dies ist gerade die zeichenhafte Vorwegnahme der Macht, die den Ohnmächtigen, die auch den Fallenden eignet. Freilich wird auch dieses Zeichen, das der Turm ist, fallen – aber dieses Fallen wird umfangen sein von der Endgültigkeit jenes Stehens, für das er Zeichen war: „Steig' in Gebeten kühner aus der Erde!“

Stehen und Fallen, Licht, das leuchtet, wo es verglüht, Transzendenz als Geschichtsbezug zum im Jetzt richtend und rettend anwesenden Ende: dies ist das Beziehungsgeflecht unseres Gedichtes. Das Bedeutendste an ihm ist seine Botschaft. Aber sie qualifiziert zugleich das Gedicht als ein solches. Es deutet eine ästhetische Form, den Turm, ohne daß diese Form als solche beschrieben wird. Ihre Elemente und ihre formale Aussage sind indessen durchaus präsent. Die erhobenen Momente des Gedichtes lassen sich unschwer auf jene Daten zurückbeziehen, mit denen in unserem Versuch der Erschließung der Freiburger Münsterturm vorgestellt wurde.

Des weiteren geht die Bedeutsamkeit des Gedichtes darin auf, daß es ihm gelingt, in einem Erheben der ästhetischen Botschaft seines Gegenstandes zugleich eine geschichtliche Momentaufnahme von höchster Brisanz zu geben, so daß geschichtlicher Augenblick und Kunstwerk als solches einander gegenseitig erhellen. Indem aber Kunstwerk und Geschichte sich gegenseitig deuten, geht, beide verbindend und in ihrer Ordnung belassend, zugleich das beide überragende Geheimnis, das Heilige, ja das unterscheidend Christliche auf.

Vielleicht darf dies als methodische Anweisung des solche Anweisung unabsehbar überragenden Gedichtes an uns gelten: Achte einfach auf die Form und auf die Worte, laß davon dir Geschichte sagen, und laß, von beiden angesprochen, dich anrühren und anrufen vom Geheimnis, anrühren und anrufen zur Antwort, die du ihm schuldest.