Unterscheidungen
Der Mensch als das Wesen der Liebe Gottes*
Christlicher Glaube glaubt, daß Gott in Jesus Christus sein erfüllendes „Und“ zum Menschen gesprochen hat. Er liest die Frage, die der Mensch ist, hin auf eine verbindliche, endgültige, erfüllende Antwort von seiten Gottes. Diese Antwort aber hebt die Dramatik des Menschlichen nicht auf; denn Gottes Antwort macht die Freiheit des Menschen nicht „überflüssig“, depotenziert sie nicht zum Automatismus, in dem sich vorgefertigtes und gesichertes Heil am Menschen vollstreckt. Die Dramatik zwischen Freiheit und Freiheit, Anruf und Antwort bleibt. Ja die Dramatik des Menschlichen wird hier erst entbunden, da es sich nicht verlieren „wird“, also schon verloren hat, und nicht gewinnen „wird“, also schon verloren hat, sondern gewinnen kann.
Christlich gesehen, wird der Mensch bestimmt durch das, was Gott ist – aber in einem anderen Sinn als bei den „humanistischen“ Modellen, die uns eingangs beschäftigten. Der Mensch wird bestimmt nicht durch das unbedingte göttliche Beisichsein, nicht durch die immanente göttliche Selbstvollendung, sondern durch Gottes geschehendes Wegsein von sich selbst, in dem er sich zugleich ganz an den Menschen verschenkt und doch der „Andere“ bleibt, den Menschen als seinen „Anderen“ konstituiert. Der Mensch wird definiert durch die ἀγάπη, die Gott ist und als die er sich in Jesus Christus offenbart.
Diese ἀγάπη ist das Wesen Gottes – und sie ist das „Drama“ Gottes, seine den Menschen konstituierende und rekonstituierende Zuwendung zum Menschen, in der und in dem Gott seine Geschichte hat. Sie bleibt in der Dramatik des Menschlichen, indem sie diese löst. Von ihr selbst, von ihrem dem christlichen Glauben offenbaren Geschehen her ist es nur „konsequent“, daß die ἀγάπη [36] sich genau am innersten Punkt menschlicher Dramatik ins Menschliche hineinspricht: in der Ohnmacht eines sterbenden, von den Menschen und von Gott verlassenen Menschen. Hier, am Kreuz, wird die Dramatik des Menschlichen in ihrer ganzen Aporie ausgelotet – und geteilt. Der Gott, der das Menschliche vollendet, ist gerade kein „deus ex machina“, er ist der „deus in homine“. Er überwindet die Aporie des Menschlichen, indem er sie bestätigt. Bestätigend aber verwandelt er sie, macht er den Abbruch des Menschlichen zur Stelle des doppelten Kontaktes, des horizontalen und des vertikalen: Wo der Mensch am Ende ist, wo er mit sich allein ist, begegnet er Gott und begegnet er dem Menschen, der Welt. In solcher doppelten Transzendenz, die nichts anderes ist als die radikale Gestalt seiner Immanenz, ist der Mensch zu sich selber, zu allen, zu seinem unbedingten Ursprung eingeholt.
Der Mensch wird so offenbar als das Wesen der Liebe Gottes. Ein unabgeschlossenes, ein in keine Definition gesperrtes Wesen. Denn die Liebe, die Gott ist, ist grenzenlose, offene – und doch konkrete, „bestimmte“ Zuwendung. Deshalb „ist“ der Mensch unendlich – und als der unselbstverständlich gerufene Partner dieser Liebe zugleich endlich. Deshalb, weil über sich hinaus und darin zu sich gerufen, ist er Transzendenz und Immanenz in einem, Differenz und Identität. Deshalb ist er Vollzug seiner selbst – und doch nicht nur „sein“ Vollzug, deshalb Offenheit, Geist – und Datum, Gegebenheit, Leibhaftigkeit. Seine Spannung in Sorge, Kommunikation und intensiver Engagiertheit durch das Unbedingte ist Spannung auf die ihn liebende und zur Liebe freisetzende Liebe Gottes. Und diese Liebe Gottes selbst ist – das „definiert“ den Menschen – Spannung auf den Menschen hin. Der Mensch ist Wesen der reziproken Transzendenz, der Zuwendung Gottes zum Menschen, seines Eingehens auf ihn und in ihn.
Ist solche Unterscheidung des Menschlichen, die ihn nicht von sich, sondern von der Liebe Gottes her definiert, indessen nicht wiederum etwas, das weit wegführt von der geschehenden Erfahrung des Menschen? Ist solche Unterscheidung des Menschen nicht wiederum für wenige, für jene eben, die glauben? Daß der Mensch [37] geliebt ist, dieses Letzte – gewiß – erfährt allein der Glaube. Doch darin wird etwas Weiteres, Vorletztes, offenbar, das nicht nur für Glaubende gilt und das, wenn überhaupt etwas, zum Grundbestand menschlicher Erfahrung, menschlichen Selbstseins gehört: der Mensch ist jenes Wesen, das geliebt sein soll.1 Dieser Anspruch auf Annahme und diese Verheißung, daß in der Annahme des Menschen, jedes Menschen, Menschsein allein in sein eigenes Maß hineinfindet, prägt und trägt menschliches Mitsein. Wo dieses Maß einmal sichtbar geworden ist, kann es nicht mehr unterboten werden.
Die Bestimmung des Menschen als jenes Wesen, das geliebt sein soll, trägt weiter als metaphysische Definition. Gerade an den gefährdeten „Rändern“ menschlicher Existenz und gerade auch dort, wo das „aktive“ Vermögen des Geistes, wo die Fähigkeit zu tätiger Selbsttranszendenz verschüttet ist in der Ohnmacht gestörten oder unentwickelten Daseins, bleibt dies unverfügbar und unverkürzbar stehen. Das „Ewige im Menschen“ ist seine Armut, die des Anderen bedarf, seine unzerstörbare Freiheit ist die Freiheit, geliebt zu werden.
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Vgl., als „indirekten“ Hinweis zumindest, Pascal, Blaise: Pensées, ed. Brunschvicg, Frgm. 283. ↩︎