Vorspiel zur Theologie

Der Gang durch die Transzendentalien

Stoßen wir nicht vom Spiel und von den Spielen zu den Transzendentalien vor, sondern lesen sie in sich selbst, so scheint als die plausibelste Einteilung, die in absolute und relative. Absolute, will sagen in sich selber stehende, nicht durch den Bezug auf ein aufnehmendes Organ konstituierte Bestimmungen sind ens (Sein), unum (Einssein), aliquid (Anderssein), res (Sachhaltigsein, Etwassein). Ihr Ursprung ist zu vermuten in der Betrachtung des Seienden, die es als einzelnes, als dieses-da analysiert und seine Dimensionen abliest. Die relativen Transzendentalien, verum (Wahrsein), bonum (Gutsein), pulchrum (Schönsein), scheinen aufgefunden [82] zu sein in der Reflexion des Beobachters auf sein eigenes Verhältnis zum Seienden: er nimmt wahr, interessiert sich, ist angehalten, ihm gefällt. Und hierbei entdeckt er, daß er mit seinem Erkennen, Streben, Gefallen bei der Sache, sozusagen in ihr aufgehoben und daß sie bei ihm als sie selbst gegenwärtig ist. Der Beobachter freilich weiß sich als nicht nur dieser einzelne, in seinem Verhältnis zum Seienden kommt die Beziehung zwischen Sein und Geist zur Gegebenheit.

Es gibt zwar unterschiedliche Tafeln und Anordnungen der transzendentalen Bestimmungen bei den großen Autoren des Mittelalters, doch werden sie, zumindest bei Thomas, nicht aus einem Prinzip her entwickelt, sondern sie geben sich im unmittelbaren Hinblick aufs Sein des Seienden. In diesem Hinblick aber enthüllen sie ihren Zusammenhang.

Was ist, das sagt mit seinem Sein das Wort „da“. Mein fragender Hinblick kann es nicht wegschieben, sondern muß es stehenlassen, es gelten lassen: es ist (ens). Dieses Da ist der Stoß, in dem alles Nicht, alle Unentschiedenheit überwunden ist: Wirken, Wirklichkeit, actus. In diesem Stoß geschieht etwas und bleibt etwas. Geschehen und Bleiben sind die beiden Grundaspekte des ens. Es ist das Urdatum, das in allen anderen Bestimmungen sich auslegt.

Wir können dieses ens gar nicht sehen und gar nicht sagen, ohne daß es sich schon in die anderen Grundbestimmungen ausgelegt hätte. Sein Stoß, sein Ereignis sind Aufgang, und in diesem Aufgang teilt das Seiende sich mit, bringt es der Wahrnehmung sich zu als das Wahre (verum). Die Macht des Seienden selber ist es, nicht nur in sich, sondern auch im Sehen dazusein, dazusein als dasselbe. In solchem Überstieg des Seienden zum [83] Denken und des Denkens zum Seienden waltet Sein als Wahrheit. Sein wäre nicht Sein, wenn es nicht in einem gelichtet, Wahrheit wäre.

Was ist, ist da. Und es sagt, daß es da ist. Indem es dies aber sagt, macht es aufmerksam, sagt es: Ich bin da für ... Es sagt mit seinem Dasein also ein Ja, und dieses Ja ist die Einladung zum antwortenden Ja. Es sagt: Ich bin gut für ... und fordert auf, ihm gut zu sein (bonum).

Daß ich erkennende Stätte dessen bin, was ist, und daß ich zugleich unterwegs bin zu dem, was gut ist, darin spielt das, was ist, über sich hinaus in eine Einheit seines Daseins mit meinem Dasein. Ich stehe mit mir in Harmonie, und es steht in Harmonie mit mir, und so geht seine Harmonie mit sich und meine Harmonie mit mir in einem auf. „Und wie mirs gefallen, gefall' ich auch mir“ (Goethe). Die Harmonie in der Selbstbeziehung und in der Beziehung über sich hinaus ist der Glanz des Seienden, seine Schönheit (pulchrum). Im Wahren, Guten und Schönen ist Sein von sich selbst her gelesen, aber über sich hinaus gelesen: in der Beziehung von Sein und Geist. Es könnte scheinen, daß diese Beziehung etwas Zusätzliches zum Sein wäre. Und doch ist sie die Wieder-holung, die Einholung des Seins zu sich, ohne die Sein nicht Sein wäre. Man könnte sagen: Geist ist die Steigerung des Seins zu sich selbst, jenes Verhältnis, das allererst Identität ermöglicht. Im Geist kommt das Sein zum selben und so zu sich selbst. Dieses Verhältnis wurde in der scholastischen Philosophie immer wieder bedacht. Und es konnte nur in einer Gegenwendigkeit, in einer doppelten Richtung der Aktivität bedacht werden. Einerseits ist es der Geist, der das Sein zu sich selbst, zu seiner Helle befreit. Andererseits ist Geist Entsprechung, Gehorsam, Antwort, denen das [84] Sein sich teilgibt als das Maß und die Wirklichkeit des Geistes. Seinsmetaphysik wird zur Geistmetaphysik, aber beide sind nicht platt dasselbe; entscheidend bleibt der Durchgang durch eine Metaphysik der Beziehung.

Indem das, was ist, da ist, hat es sich nicht nur über sich selbst hinaus, hat es sich nicht nur dem Geist zugebracht in der dreifältigen Beziehung des Wahren, Guten und Schönen. Der Aufgang dessen, was ist, sagt auch von sich selbst und unmittelbar ein Dreifältiges.

Der Stoß, das Geschehen, der Aufgang des Da enthielte nichts, wenn er ins Grenzenlose zerflösse. Seiendes ist nur es selbst, weil es sich unterscheidet von anderem. Sein ist nur Sein, weil es sich unterscheidet vom Nichts. Das Geschehen von Sein ist der Vorgang von Unterscheidung und Entscheidung (aliudquid).

In der Untersuchung geht als ihre andere Seite Einheit auf (unum). Was ist, ist konsistent, ist es selbst, ist mit sich identisch. Nur als eins mit sich kann es eins werden mit seinem anderen, eins in der Mitteilung. Die Grenze, die es nach außen unterscheidet und darin fürs Außen berührbar macht, in Kontakt zum Außen bringt, sammelt es zugleich ins Innen, konstituiert dieses Innen.

Das Innen ist nicht Leere, sondern Fülle. Sein heißt Fülle, Inhalt (res). Was aufgehend da ist, enthält sich selbst, enthält sein Was, sein Wesen.

Schauen wir den Zusammenhang von Einheit, Andersheit und Gehalt bei einer Blume an. Hätte sie, äußerlich betrachtet, keine Grenze, ginge sie ohne Kontur über in ihre Umgebung, so wäre sie nicht anschaubar, so wäre sie nicht sie selbst. Hätte sie, innerlich angeschaut, nicht unterscheidende Merkmale, die sie abhöben vom Tier oder vom Mineral, so wäre sie wiederum nicht sie selbst. Was sie unterscheidet, gibt ihr zugleich ihre Ein-[85]heit, ihre Identität. Diese Einheit ist die Innenseite: das eine Leben, das zeitlich vom Samenkorn bis zum Verwelken, das in der Gestalt von der Wurzel über den Stengel zum Blütenkelch reicht. Die Blume ist das Eine, was in all diesen Teilen und Momenten, sie zusammenbindend, da ist und aufgeht. Unterschiedene Einheit aber ist bestimmte, sprechende, gefüllte Einheit, ist Gehalt. Wir können von der Blume gar nicht sprechen, ohne zu sagen, was sie ist, was in Einung und Unterscheidung sich als ihr eines Wesen zeigt und entfaltet. In all ihren Phasen, Farben, Teilen drückt sich das Blumesein aus.

Andersheit, Einheit und Gehalt scheinen das, was ist, herauszunehmen aus der Beziehung zum gewahrenden, strebenden, mitspielenden Geist. Dennoch hat das Sein nur im Geist die Kraft der Unterscheidung und Synthesis, welche erst zusammen das Sein in seiner Fülle bergen und wahren. Unterscheidung ist Unterscheidung von ... , Grenze ist Grenze nur von ihrem Jenseits, von dem her, was über sie hinausliegt. Das eine und das andere wie auch das Sein und das Nichts müssen im einen Sehen, Streben, Gefallen umfangen sein, damit die Unterscheidung und die Einheit zu sich kommen und nicht selbst wiederum zerfließen.

Trotz allen Abstandes zwischen unserer heutigen Fragestellung und dem Ansatz der scholastischen Transzendentalienlehre gewinnt diese ihre Plausibilität für den, der sich auf die Phänomene einläßt. Eine Gedankenfigur, die in der Scholastik selbstverständlich ist, bleibt uns jedoch zunächst fremd. Alles Seiende ist, sofern es ist, wahr, gut, schön, eins, dies und nichts anderes, inhaltlich gefüllt. Diese Grundaussage steht in Spannung zu den Erfahrungen des Mißglückten, des Belanglosen, des Absurden, des Furchtbaren und des Bösen. [86] Wie wird die Scholastik damit fertig? Ihre für uns befremdliche Antwort: Alles Negative ist Mangel an Sein, ist nicht positiver Gehalt, sondern Abwesenheit von Gehalt, ist nicht Sein, sondern Nicht-Sein. Auf diese Weise wird die transzendentale, will sagen uneingeschränkte Geltung der Transzendentalien, ihre Deckungsgleichheit mit dem Sein gewahrt.

Unsere Erfahrung sagt dagegen, das Böse sei nicht die Ohnmacht des Guten, sondern die Übermacht über das Gute. Das Zwiespältige, das Schreckliche hat eine realere, „seiendere“ Kontur als das, was in Ordnung geht. Es ist nicht ein Nicht-ganz-Gutes, eine bloße Unterbietung des eigentlich gemeinten und gesollten Wahren, Guten, Schönen, sondern sein störender, zerstörender Kontrapunkt.

So unabweislich diese Erfahrung die unsere ist, sosehr bedarf sie doch der Deutung, die mehr ist als betroffenes Sich-Beugen. Die Macht des Unheilvollen und des Bösen ist von der Art der Gewalt. Vom inneren Wesen und Sinn der Macht her ist sie ohnmächtiger als die leise Autorität. Diese ist mächtiger, weil sie die Zustimmung, die Freiheit des Partners nicht überspielt, nicht zu überspielen braucht. Die Lautstärke der Gewalt ist Signum ihrer Anstrengung. Die Plausibilität der Gewalt ist ihr Erfolg. Und dieser Erfolg gründet darin, daß sie im Bund ist mit der Ohnmacht des Endlichen, das aus sich selbst sein Ziel, seinen Sinn nicht erreichen, sein Dasein nicht retten und erfüllen kann. Wenn die Ohnmacht des Endlichen die ausschlaggebende Instanz der Wirklichkeit ist, dann, aber nur dann ist das Schreckliche, das Sinnlose mächtiger als die seinshaft höhere Macht der Freiheit. Gewiß, was nützt uns, daß das Gute seinshaft höher steht, wenn das seinshaft Mächtigere nicht auch fak-[87]tisch sich durchsetzt? Heil ist faktisches Heil, oder es bleibt beim Unheil.

Dieser Argumentation setzt die Scholastik die andere, die seinshafte, ontologische entgegen, die „in sich“ recht behält. Ihre zwei Glieder heißen: Auch zur Gewalt pervertierte Macht bleibt Macht; Macht, die fürs falsche Ziel eingesetzt wird, bleibt, sofern sie Macht ist, gut, nur ihr Ziel, ihr Effekt ist böse. Das andere Glied: Die Ohnmacht der Endlichkeit läßt sich nur verstehen aus ihrer Herkunft von der sie gründenden Macht und aus ihrer Tendenz auf die sie erfüllende Macht. Wo diese Ohnmacht zur Gewalt greift, deklariert sie nur ihren Charakter als Ohnmacht. So stimmig diese Gedankenführung in sich ist, sie bleibt Gedanke, bloßer Gedanke, wenn die Wirklichkeit befangen bleibt in der Zone der sich selber überlassenen Endlichkeit und ihrer Ohnmacht. Das Mittelalter lebte von einer Ordnung, die sich im Glauben und in der Hoffnung der Christen herausgehoben wußte über die Letztgültigkeit solcher Ohnmacht. Diese über die Natur hinaustragende, auf die Gnade gegründete Zuversicht restituierte immer wieder das gefährdete naturale Vertrauen auf die Vormacht des Seins über die Ohnmacht des Seienden.

Unsere Epoche lebt nicht mehr aus der Allgemeinheit christlicher Überzeugung. Schon am Anfang der Neuzeit zeigte das sich doch als der epochale Bruch an: Der Mensch fand sich ausgesetzt, verunsichert, zurückgeworfen auf sich allein. Seine neue Aufgabe hieß nicht mehr, eine vorgegebene gute Welt auszugestalten, ausgesparte Freiräume mit seiner Fantasie und Anstrengung auszufüllen nach dem in der Schöpfung angelegten Plan. Nein, die Welt war auf die Spitze seines Entwurfs, seiner Steuerung, seiner Macht allein gestellt. Welt sollte total [88] menschliche Welt werden – gerade das aber setzt den Menschen total seiner Unsicherheit, seiner Ohnmacht aus. Sein Auftrag erscheint als totaler Auftrag, seine Gefährdung wird totale Gefährdung.

Dies kann durch die Gedankengänge der Scholastik nicht aufgeholt, nicht ausgeglichen werden. Und doch sind sie für uns nicht belanglos, zeigen sie uns ihr relatives Recht. Wir können nicht unserem Herkommen aus einer Macht entrinnen, die wir nicht vermögen; wir können ebensowenig der Dynamik unseres Daseins entrinnen, die auf eine Macht tendiert, welche nicht Zerstörung, sondern Erfüllung heißt. Unsere Faktizität, noch so hinfällig, noch so gefährdet, steht in der Klammer jener seinshaften Mächtigkeit, vor der das Böse, das zerstörerisch Schreckliche als das qualitativ Nichtige, als das faktisch Sekundäre erscheinen muß. Freilich muß noch einmal gesagt werden: Von uns her läßt sich nicht ausmachen, welche Macht sich am Ende durchsetzt, die gründende und zielsetzende Macht oder die Mächtigkeit unserer faktischen Ohnmacht. Wenn diese erste und letzte Macht uns nicht allein läßt in unserer Ohnmacht, dann allerdings hört die ontologische Betrachtungsweise der Scholastik auf, ein Gedankenspiel zu sein, wird sie zur Matrize des gültigen und gemäßen Verstehens der Wirklichkeit und Verhaltens zur Wirklichkeit.