Bonaventura und der Ansatz theologischen Denkens

Ansatz von oben

Daß Bonaventura von der Unmittelbarkeit des Menschen zu Gott hin, von der Anfänglichkeit Gottes im Bewußtsein des Menschen überzeugt ist, gilt doch wohl allgemein als seine Eigenart, etwa im Unterschied zu Thomas von Aquin, der bei der conversio ad phantasmata ansetzt und dem als das eigentliche Objekt menschlicher Erkenntnis die quidditas rei sensibilis gilt.1 Verkürzt könnte man sagen: Thomas ist ein Denker des Zugangs, Bonaventura ein Denker des Ausgangs. Thomas stößt in behutsamen Schritten durch zu der alles tragenden, aber auf dem Weg und gar am Anfang des Weges noch keineswegs dem Denken deutlichen Voraussetzung, zu Gott; Bonaventura ist zutiefst durchdrungen von dem „Überschuß“ Gottes über alles das, was uns von außen zu ihm hinführen kann, und so schwingt er sich unmittelbar in die Quelle ein, ohne die ihm das Entsprungene in keiner Weise verstehbar erscheint. Der Sprung in den Ursprung geht für Bonaventura dem ersten Schritt des Denkens bereits voraus; dieser erste Schritt ist somit bereits Schritt des Mitgangs auf dem Weg des Ursprungs.

Dies wirkt sich für Bonaventura auch aus in der Weise, wie er spricht. Seine Worte sind – zumindest sehr oft – nicht die seinen, sondern Worte der Schrift, Worte Gottes. Das Zitat am Anfang ist so mehr als nur ein Stilmittel, es ist der Einsprung in den Ansatz. Hierbei ist es noch einmal von Belang, welche Worte Bonaventura in wichtigen Schriften an den Anfang setzt. Als signifikant darf das Wort vom „Vater“ gelten, „von dem alle Vaterschaft im Himmel und auf Erden ihren Namen hat“ (Eph 3,14),2 oder das Wort vom „Vater der Lichter, von dem jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk stammt“ (Jak 1,17)3. Daß gerade das letzte Wort am Beginn zweier Schriften steht, die in ihrem Aufbau eine Linie des Aufstiegs, des Zugangs verfolgen, weist darauf hin, daß Aufstieg und Zugang bereits als Rückkehr zu verstehen sind, die umfaßt werden von der Struktur des göttlichen Vorgangs. So ist auch im Itinerarium nach der Vorrede, bei der ersten Stufe des Aufstiegs noch einmal ein Schriftwort gesetzt (Ps 83 (84), 6f.),4 das den Aufstieg kennzeichnet, um den es geht. Dieser Aufstieg selbst wird aber verankert in der Hilfe, die von oben kommt und die eben deswegen als nötig bezeichnet wird, weil es gilt, ins „supra semetipsum“5 zu gelangen. Ansatz von oben, das bedeutet für Bonaventura so aber zweierlei zugleich: [92] einmal ist das erste, von dem sein Weg des Denkens den Ausgang nimmt, der Gott über uns, zum zweiten ist es aber auch der Gott in uns, will sagen: das in uns, was nicht aus uns, sondern von Gott kommt, seine Gnade. Menschliche Zugänge durchs Geschaffene zu Gott sind empfangen vom Ausgang Gottes, der als je größer diese Zugänge erst erschließt; menschliche Arbeit und Leistung des Denkens und Näherkommens sind umschlossen von der eröffnenden und gewährenden Erleuchtung und Gnade. Es geht uns hier nicht um die genaue und behutsame Analyse dessen, was Übernatürliches und Natürliches im Sinn von Bonaventura bedeuten und wo je ihr Anteil liegt, sondern um den strukturalen Vorrang des Oben, und das heißt sowohl Gottes selbst als auch seiner Initiative.

Ein weiteres deutet sich hier an: Der Anfang bestimmt auch das Ziel und ist vom Ziel bestimmt: Immer wieder weist Bonaventura darauf hin, daß es um die Einung mit Gott, um die Schau Gottes, um jene Seligkeit geht, die eben bei ihm nicht primär abgelesen ist von einer Bedürfnisanalyse des Menschen, sondern vom Blick auf den Ursprung, der eingeholt sein will und der, weil Ursprung, auch allein dem Entsprungenen genügt. Wenn es auch in der Theologie des Bonaventura so um das Heil des Menschen geht, ist die Dimension Heil doch nicht eine induktive, vom Menschen her ermittelte und postulierte, sondern umgekehrt gerade die Konsequenz des Ansatzes von oben, des Ansatzes beim je größeren Ursprung.

Dieser je größere Ursprung setzt sich gerade darin durch, daß am Ende des Weges zu Gott je wieder ein Lassen und Verlieren, eine Negativität steht, die alle Aktivität und Positivität ihm allein einräumt. Nachdem die Weisheit die Stufen der uniformitas, multiformitas und omniformitas erreicht hat, wird sie wiederum nulliformis6; ähnlich steht am Ende des Itinerarium, am Ende der Aufstiege das Feuer, das wegnimmt und umgestaltet, der Tod, durch den hindurch erst Gott sichtbar wird.7


  1. Vgl. von Aquin, Thomas: Summa Theol., I, 84, 7 (Die Deutsche Thomas-Ausgabe, Band 6, Salzburg 1937, 283-87). ↩︎

  2. Vgl. Soliloquium, Prologus 1 (Opera omnia, tom. VIII, 28); Breviloquium, Prologus (V, 201). ↩︎

  3. Vgl. Itinerarium, Prologus 1 (V, 295); De reductione artium, 1 (V, 319); De septem donis Spiritus Sancti, I, 1 (V, 457); ebenfalls zitiert im Verlauf des Prologs zum Soliloquium (VIII, 28). ↩︎

  4. Itinerarium, I, 1 (V, 296). ↩︎

  5. Itinerarium, I, 1 (V, 296). ↩︎

  6. Vgl. Hexaemeron, II, bes. 8 und 28-34 (V, 337. 340-42). ↩︎

  7. Vgl. Itinerarium, VII, 6 (V, 313). ↩︎