An die Ordensleute zu Weihnachten 1986
[122] Liebe Schwestern und Brüder!
Es ist mir eine liebe Pflicht, Ihnen mit diesem Weihnachtsbrief ein besonders herzliches Danke zu sagen für den vielfältigen geistlichen und oftmals auch praktischen Dienst, den Sie und Ihre Gemeinschaften in die Heiligtumsfahrten und den Katholikentag 1986 eingebracht haben. Ihr Gebet, Ihr Dasein, Ihre Gastfreundschaft, Ihr Dienst in Wort und Tat haben vielfältig Bild und Wirklichkeit dessen geprägt, was da geschah. Und ich bin mir sicher, daß dies ein Segen nicht nur für die anderen Teilnehmer, sondern auch für Sie selber ist. Im Themensektor des Katholikentags „Geistliche Gemeinschaft“ – aber keineswegs nur hier – haben Ernst und Interesse so vieler Teilnehmer erwiesen, wie kostbar und, im tiefen Sinne des Wortes, zeitgemäß das Erbe und die Berufung der Orden und geistlichen Gemeinschaften und wie wichtig ihr Zeugnis für die Kirche insgesamt sind.
Es wäre falsch, in einem nur äußeren Erfolgsdenken sich zu fragen: Was hat es für uns gebracht? Viele sind aufmerksam, sind nachdenklich geworden, mancherlei Bilder und Meinungen sind zurechtgerückt worden, und welches Samenkorn auf welchen Acker gefallen ist, welche Frucht es dort bringen wird, das weiß Gott allein. Aber eines wissen wir: Die Orden sind ein Schatz für die Kirche, und die Kirche hat das mit Dank und Freude gesehen, die Kirche und viele suchende und fragende junge Menschen.
Im Blick auf Sie, liebe Ordensleute, kommen mir nochmals die Merksätze in den Sinn, mit welchen ich den Katholikentag begonnen [123] habe, Sätze, die anknüpfen bei jenem biblischen Bericht über den Propheten Elija, der zur Zeit der großen Trockenheit auf den Berg Karmel steigt und betet, bis eine kleine Wolke heranzieht und den großen Regen bringt, der dem verdursteten Land neues Leben, neue Hoffnung schenkt:
Kleine Wolke, die den großen Regen bringt.
Kleiner Ruf, der in den großen Himmel dringt.
Kleine Botschaft, die das große Reich ansagt.
Kleine Pilgerschar, die große Zukunft wagt.
Spiegelt sich da nicht Ihre Berufung? Erfahren nicht Sie zumal, wie groß die Dürre und der Durst unserer Zeit, wie gefährlich das Austrocknen der geistlichen Quellen ist, aus denen Glaube, Hoffnung und Liebe sich speisen? Und da sind Sie auf den Gottesberg gestellt, ohnmächtig aus sich, ausgesetzt, ohne Kraft und Rat, wie diese Situation durch menschliches Tun gewendet werden könnte. Aber gerade so werden Sie zum Zeichen, zum Zeitzeichen und zum Hoffnungszeichen. Vielen erscheint es befremdend und sinnlos, daß Sie so leben, wie Sie leben; sie haben den Eindruck, durch Ihr Sein und Beten, Ihren Einsatz und Dienst „tue sich nichts“. Aber dieses scheinbare Nichts, dieser verschlossene oder leere Himmel, in den Sie hineinleben, er ist der Raum Gottes, der Raum der Zukunft. Ihr Dasein ist Ausspähen nach der kleinen Wolke, die den großen Regen bringt. Mehr noch, Sie selber dürfen wissen: Wir sind zwar eine kleine Wolke, aber der in uns lebt, er trägt in sich die lebenspendenden, zukunftschaffenden Wasser.
Und es ist Ihr Dienst, die Not und Verzweiflung der Menschen, aber auch die Hoffnung und Liebe der Kirche hineinzurufen in diesen Himmel – und Sie dürfen sicher sein, daß Ihr Gebet das Herz des Vaters erreicht: kleiner Ruf, der in den großen Himmel dringt.
Und wenn manche meinen, Sie seien Museumsstücke aus einer unwiederbringlichen Vergangenheit, so dürfen Sie wissen: Wo Sie [124] aus der Mitte ganz einfach Ihr Dasein leben und Ihren Auftrag erfüllen, da werden Sie Zeuge, da werden Sie gelebtes Wort, an welchem auch andere das Evangelium wieder zu buchstabieren lernen. Die evangelischen Räte und die Verbindlichkeit gemeinsamen Lebens und Dienstes sind die Sichtbarkeit der Bergpredigt und des Liebesgebotes, sind die Gestalt gewordene Zuneigung Gottes zum Menschen und ebenso der Gestalt gewordene Blick des Menschen über das hinaus, was sich entwerfen und herstellen läßt: kleine Botschaft, die das große Reich ansagt.
Wenn Sie auf dem Weg bleiben, den Ihr Ruf Ihnen zeichnet, wenn Sie diesen Weg in Treue zum Ursprung und Wachheit für den Augenblick miteinander fortsetzen, dann werden viele mit aufbrechen: kleine Pilgerschar, die große Zukunft wagt.
Bestellt, Ausschau zu halten nach der Wolke, ja selber Wolke zu sein, in welcher die Wasser des Lebens für unsere Zeit und Welt geborgen sind;
bestellt, die Stimme der Stummen und Schüchternen zu sein, mehr noch: die Stimme der Braut Kirche, die zum Himmel ruft;
bestellt, durch Lebensform und Lebensgemeinschaft lebendiges Wort zu sein, das vielen das Evangelium sichtbar und lebbar werden läßt;
bestellt, Gemeinschaft zu sein, die den Pilgerweg der Kirche anführt durch die Kraft dessen, der in ihrer Mitte lebt: ist das nicht eine herrliche Berufung?
Ja, der Herr werde in jeder und jedem einzelnen von Ihnen und in Ihrer Mitte neu geboren, damit Sie Wolke und Ruf, Botschaft und Pilgerschar sein können auch im kommenden Jahr.
| Ihr Klaus Hemmerle |