„Ich will Euch Zukunft und Hoffnung geben“

[89] Unzählige Male habe ich von Kindertagen an emporgeschaut zu diesem einzigartigen Turm, vor dem wir uns nun versammeln, um Katholikentag zu halten. Eines unter diesen ungezählten Malen werde ich nie vergessen. Es war am Abend des 27. November 1944. Ich war, 400 Meter von hier, von jenem schrecklichen Bombenangriff überrascht worden, der den Kern dieser Stadt aufs empfindlichste traf. Als ich aus dem Keller des damaligen Berthold-Gymnasiums hervorgekrochen war, galt der erste Blick dem Münsterturm. „Er steht, die Stadt ist nicht verloren!“ sagte mein Vater neben mir. Reinhold Schneiders aus dieser Nacht geborene Verse hatten für uns kein fremdes Pathos: „Steh unerschüttert herrlich im Gemüte, du großer Beter glaubensmächtiger Zeit.“

Wenn hier ein deutscher Katholikentag beginnt, zum erstenmal nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum in Freiburg, und wenn er unter dem Leitwort steht „Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben“, dann wird von selbst die Predigt wieder wach, die damals über den Trümmern der Münsterturm hielt.

Er stand da als Zeichen, reckte sich auf wie ein Finger, der zum Himmel weist – nicht weniger eindrucksvoll als drüben in Colmar auf dem Isenheimer [90]

Altar der Finger Johannes’ des Täufers hinweist zum gekreuzigten Herrn. Das war damals Signal, gegen alle Hoffnung zu hoffen, gegen alle Erfahrung des Niedergangs neu anzufangen, gegen alle Überlast unmenschlicher Vergangenheit Zukunft neu zu wagen: Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben.

Aber – so müssen wir uns heute betroffen fragen – geht nicht jener Abschnitt der Geschichte zu Ende, zu dem uns der erhalten gebliebene Münsterturm ermutigt? Zukunft und Hoffnung stehen lautloser, aber keineswegs weniger abgründig in Frage als damals. Gilt noch die Predigt des Münsterturms – oder wie heißt sie heute?

Ich bin überzeugt: Auch heute brauchen wir den Finger, der über alles bloß Nützliche und Brauchbare hinausdeutet, aufs Geheimnis – nur so können wir Welt und Zukunft menschlich und hoffnungsvoll gestalten. Auch heute ist dieser Münsterturm Zeichen von Tradition, das in die Zukunft weist; denn er bezeugt den, der allein Zukunft eröffnen kann. Auch heute noch überrascht uns die Kühnheit und Neuartigkeit dieses Turmbaus – gerade weil er Maß und Ordnung in sich verkörpert, einen Kanon des Geltenden, Prinzipien und Werte, an denen nicht zu rütteln ist.

Die Botschaft bleibt. Aber was sie auszurichten hat, klingt neu; denn die Not um die Zukunft war eine andere damals in den Trümmern und ist eine andere heute, da der Wiederaufbau längst vom Umbau abgelöst ist.

Ich brauche unsere Situation, unsere neue Situation zwischen Angst und Hoffnung nicht nochmals auszubreiten. Ihre Bilder wurden uns soeben eindrücklich von den Sprechern vor Augen gestellt. Es ist die Situation eines Umbruchs. Aber dieser Umbruch kommt nicht von ungefähr, er hat sich schon jahrhundertelang vorbereitet. In den drei Jahrzehnten seit Kriegsende hat er seine abgründige Tiefe, seine unabsehbare Tragweite vor uns offengelegt.

Zwischen den Bau dieses Münsters und unser Heute schiebt sich die vielleicht kühnste Epoche der Menschheitsgeschichte. Wissenschaft, Technik, Planung prägen die Kultur dieser Neuzeit. Sie ist die erste Epoche, in der nicht mehr die Tempel, sondern die Maschinen im Mittelpunkt stehen. Die erste Epoche, in der nicht mehr der Kult, sondern die Konstruktion, nicht mehr die Tradition, sondern jener Fortschritt herrscht, der Schritt um Schritt Vorgegebenheiten der Welt in Machbarkeiten des Menschen verwandelt. Der Mensch baut ein Verkehrs- und Kommunikationssystem rund um den Erdball und bis ins Weltall hinein. Der Mensch beutet die Vorräte der Natur aus, manipuliert die Möglichkeiten der Natur. Der Mensch wird zum Ingenieur der Gesellschaft, plant und steuert das Zusammenleben aller mit allen. Es ist klar, weshalb diese Kultur sich keine Münstertürme mehr baut. Nicht mehr der Turm ist Symbol, eher die Weltraumkapsel, die zwischen allen Abgründen schwebt. Der Mensch steht einsam in sich, hat in nichts anderem mehr Halt. Seine Vernunft durchschaut alles, seine Freiheit plant alles, seine Kraft vermag alles. Ein unheimlicher Standort zwischen grenzenlosem Optimismus und [91] bodenloser Angst. Zukunft scheint keine anderen Voraussetzungen mehr zu haben als jene, die der Mensch in sich selber trägt.

Und in diese Bewegung scheinbar nicht zu hemmenden Aufstiegs bricht dieser unmenschliche Widersinn, diese zerstörerische Ideologie eines Dritten Reiches. Sie führte in einen Weltbrand, in einen Zusammenbruch ohnegleichen. Es schien offenbar geworden zu sein, daß der Mensch mit seiner Freiheit doch nicht alles leisten kann. Er braucht einen Halt, eine Ordnung, eine Orientierung, die er nicht in sich selber findet. Predigt des Münsterturms.

Aber was ist geschehen? Neuanfang zweifellos. Aber vielleicht noch mehr: Fortsetzung, Nachspiel der Neuzeit. Der Mensch hat seine Kraft zusammengenommen, hat Leistungen wirtschaftlicher, technischer, sozialer Art vollbracht wie noch nie. Die Welt ist zusammengeschmolzen zur einen Welt. Die Zukunft ist zum gemeinsamen Unternehmen aller geworden. Der Geist des Fortschritts hat seine intensivste Phase erlebt, jetzt, in diesen Jahrzehnten seit 1945. Aber – so dürfen wir sagen – dieses grandiose Nachspiel der Neuzeit läuft nun in ein vierfaches Ende hinein.

Wir stoßen an die Grenze des menschlichen Herzens. Was ist in diesem rationalen Zeitalter alles an Grausamkeit, an Aggression, an Egoismus, an blinder Gewalt aus dem Herzen des Menschen hervorgebrochen? Auschwitz und Archipel Gulag sind keine Einzelfälle geblieben. Diktatur, Unterdrückung, Völkermord, aber Terror und Rücksichtslosigkeit auch mitten in den freiheitlichen Gesellschaften lassen uns davor erschrecken, wer wir sind. Nein, wir können offenbar nicht mit noch so klugen Maßnahmen und Überlegungen allein die Abgründe unseres Herzens aussteuern.

Wir stoßen an die Grenze der Natur. Es ist schon fast zum Gemeinplatz geworden, und doch haben wir kaum angefangen, daraus die Konsequenzen zu ziehen: Die Vorräte und Lebensräume unserer Welt lassen sich nicht beliebig vermehren. Nicht alles technisch Mögliche ist praktisch machbar. Und je mehr wir machen, desto mehr drohen wir uns den Raum, der uns bleibt, zu verbrauchen und zu verbauen. Rohstoffkrise, Energiekrise, Ernährungskrise, Umwelt-krise: sind das bloß Engpässe – oder sind es nicht vielmehr Sackgassen? Wo unsere Freiheit ihren eigenmächtigen Willen hat, da ist nicht überall ein Weg.

Wir stoßen an die Grenze des Miteinanders. Wir haben uns ein Kommunikationsnetz aufgebaut, das alles und alle umspannt. Noch unser Innerstes und Persönlichstes kommt auf den Markt, wird verhandelt, analysiert, ausgetauscht. Unsere Freiheit hat sich unter Kommunikationszwang gesetzt – und in diesem Kommunikationszwang wächst die Einsamkeit. Je mehr wir miteinander zu tun haben, desto mehr bleiben wir allein. Was wir einander sagen, was wir voneinander hören, ist Markenware aus der Serienherstellung. Ein vornormiertes Programm prägt unser Reden, unser Hören und unser Interesse – und so geschieht in der Begegnung nichts Neues. Wir bleiben leer und lassen den anderen leer.

[92] Wir stoßen schließlich an die Grenze der Zukunft. Ausgerechnet die Zukunft scheint uns am Ende der Neuzeit abhanden zu kommen. In dem Ausmaß, wie wir sie machen können, wird sie uninteressant. Sie hört auf, Zukunft zu sein. Sie läßt sich ja ablesen am vorgefertigten Programm. Wir sind alt von Jugend auf und bemühen uns deshalb krampfhaft um Jugendlichkeit. Das Leben ist gelaufen, wenn es anfängt; denn was an Möglichkeiten drinnen steckt, ist schon bekannt. Gerade davor haben wir Angst, gerade das macht uns unfrei. Gerade das gibt uns den Hunger nach jenem neuen und ganz anderen Wort, das uns wahrhaft Zukunft und Hoffnung schenkt.

Einer der Großen, die mit unbestechlichem Blick diese Grenzen vorausgesehen haben, ist der jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig. Er hat vor genau 70 Jahren diesen Münsterturm aufgesucht, um in seinem Schatten sein geniales Werk „Stern der Erlösung“ zu Ende zu schreiben. Er hat die Größe und die Grenze jener Freiheit aufgezeigt, die alles kann und macht und hat – die gerade so aber leer und einsam bleibt. Und er hat jene neue Freiheit entdeckt, die aufbricht im Gespräch, in der Beziehung zwischen Gott und Welt und Mensch, im Ich und Du, im Geben und Nehmen, im Schenken und Beschenktwerden. Dieses „und“, Geben und Empfangen, Schenken und Beschenktwerden – schlägt das nicht einen neuen Ton an, läutet das nicht eine neue Epoche ein? Jene, die uns auch über die vier Grenzen unserer Situation hinausführt?

Grenze des Herzens: Ohne daß uns vergeben wird und daß wir vergeben, ohne daß wir uns beschenken lassen und daß wir weiterschenken, überwinden wir diese Grenze nicht. Nicht Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung, nicht Verteidigung der eigenen Interessen und Ansprüche, sondern Einsatz, der sich selbst nicht spart, der auch das eigene Blut nicht scheut. Jesu Neues Gebot scheint eine Lebensnotwendigkeit anzuzeigen, ohne die ein Überleben der Menschheit in Menschlichkeit fraglich wird. „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe“ (Joh 13,34). Nur der Rhythmus dieses Lebens Gottes kann auch den gestörten Rhythmus unseres menschlichen Herzens wieder in Ordnung bringen. Nur im Herzen Gottes überlebt das Herz des Menschen sich selbst.

Grenze der Natur: Ohne daß wir uns bescheiden, ohne daß wir einen alternativen Lebensstil lernen, ohne den Verzicht, der ja sagt zur Grenze, überwinden wir diese Grenze nicht. Nicht selbstherrlich mir nehmen, was ich will, indem ich Natur ausraube und ausbeute, sondern: mir schenken lassen. Nicht meine Wünsche und Ansprüche zum Maß meines Lebens machen, sondern Mut haben zur Armut, der auch die kargen Gaben wieder kostbar werden. Nicht an mich allein denken, sondern weitergeben, brüderlich teilen mit dem Nächsten und Fernsten. Selig nicht die Selbstsicheren und Selbstsüchtigen, vielmehr „selig die Armen, denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,3). Und müssen wir im Blick auf unsere Situation nicht hinzufügen: Selig, die den Mut haben zur Armut, denn auch nur sie eröffnen Zukunft für die Menschheit?

[93] Grenze des Miteinanders: Ohne daß wir lernen, daß Ich klein zu schreiben und das Du groß zu schreiben, ohne daß wir mit Opfer und Einsatz die Wand durchstoßen, die uns voneinander trennt, überwinden wir diese Grenze nicht. Kommunikation gelingt nur in dem Maß, in dem wir den Mut aufbringen zum Zeugnis voreinander und zum Dienst aneinander. Das Miteinander glückt nur, wenn ich unbeirrbar bereit bin, immer neu den ersten Schritt auf den anderen zu zu tun. Nicht verstanden werden, sondern verstehen, nicht geliebt werden, sondern lieben. Um es mit dem Wort Jesu zu sagen: „Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen“ (Mk 8,35).

Grenze der Zukunft: Ohne daß wir unsere Zukunft aus den Händen geben, werden wir diese Grenze nicht überwinden. Das heißt aber: Verzicht darauf, unsere Zukunft sichern und leisten zu wollen, Verzicht zugleich auf die Angst, unsere Zukunft nicht sichern und leisten zu können. Positiv gewendet: Wir müssen hinausschauen über das, was wir brauchen und herstellen können, hin zu dem, was uns an unverfügbaren Werten und Zielen gegeben ist, hin zu dem, der uns allein Zukunft und Hoffnung schenken kann. In der Zuspitzung des Evangeliums: „Suchet zuerst das Reich Gottes, und alles andere wird euch hinzugegeben“ (Mt 6,33).

Immer wieder, wie von selbst, kommen uns dieselben Worte: schenken und beschenkt werden, geben und empfangen. Es unterläuft uns leicht, daß wir im Leitwort dieses Katholikentags, im Prophetenwort des Jeremia nur das Wortpaar hören „Zukunft und Hoffnung“ – aber wir überhören das Zeitwort „Ich will euch geben“. Und doch ist gerade dies das Thema unseres Katholikentags : Es gibt nur die Hoffnung und die Zukunft, die wir uns geben lassen, geben lassen von dem, über den wir nicht verfügen können. Dazu gehört freilich, daß wir auch unsererseits den Mut aufbringen, sein Ebenbild zu sein. Wir selber müssen lernen, daß Geben wichtiger ist als Machen, Empfangen wichtiger als Haben.

Das soll nicht nur Programm sein für die Vorträge und Diskussionen bei diesem Katholikentag, sondern Programm vor allem dafür, wie wir einander begegnen und wie wir dem Gott der Hoffnung und Zukunft begegnen. Wir beginnen den Katholikentag unter dem Freiburger Münsterturm. Daß er 1944 nicht zusammenbrach, war Zeichen der Hoffnung. Braucht diese Hoffnung heute nicht noch einen anderen Turm als ihr Zeichen, einen Turm aus lebendigen Bausteinen? Nicht einen Festungsturm, in den wir uns ängstlich verkriechen. Nicht einen Turm von Babel, mit dem wir unsere eigene Macht und Herrlichkeit selbstsicher darstellen. Sondern einen Münsterturm. Wenn einer den anderen trägt, wenn einer dem anderen gibt und vom anderen empfängt, wenn wir uns gemeinsam auf den hin orientieren, der größer ist als wir, dann kann er emporwachsen und zum Himmel deuten. So könnten wir Christen Zeichen sein für den, dessen Botschaft an alle geht: Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben.