Spielräume Gottes und der Menschen
Mt 14,13–21
Als Jesus das hörte, entwich er von dort in einem Boot an einen öden Ort – abseits. Aber die Scharen hörten es und folgten ihm zu Fuß von den Städten her. Als er ausstieg, sah er viele Leute. Da ward ihm weh um sie, und er machte die Elenden unter ihnen heil. Als es Abend geworden, traten die Jünger zu ihm und sagten: Öd ist der Ort, und die Stunde ist schon vorgerückt; entlaß nun die Scharen, daß sie in die Dörfer gehen und sich Essen kaufen. Aber Jesus sprach zu ihnen: Sie brauchen nicht wegzugehen, gebt ihr ihnen zu essen! Und sie sagten zu ihm: Wir haben nur fünf Brote und zwei Fische hier. Er sprach: Bringt sie her zu mir! Und er gebot den Scharen, sich auf dem Gras zu lagern. Er nahm die fünf Brote und die zwei Fische, blickte zum Himmel auf, sprach die Preisung, brach und gab den Jüngern die Brote, die Jünger aber den Scharen. Und alle aßen und wurden satt. Und den Überschuß der Brocken hoben sie auf – zwölf Körbe voll. Die gegessen hatten, waren an die fünftausend Männer, ohne Frauen und Kinder.
[4] Liebe Schwestern und Brüder!
In dieser Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung eröffnen sich uns vier Spielräume. Ich möchte mit Ihnen diese Spielräume betreten, in der Hoffnung, daß sie Spielräume für unser eigenes Leben, aber auch Spielräume dort werden, wo wir wirken, Spielräume für Kinder in einer menschenfreundlichen Schule. Zwar ist das, was ich sagen will, scheinbar weit weg von allen aktuellen pädagogischen und organisatorischen Schulproblemen. Aber vielleicht finden wir nur „weit weg“ von ihnen die Spielräume, deren wir so sehr bedürfen.
Um in diese Spielräume vorzustoßen, schließe ich mich der Textgestalt aus der Übersetzung des Neuen Testaments an, die der Tübinger Exeget Fridolin Stier geschaffen hat. Sie ist sehr nah am Urtext, dessen lebendiger Puls sich im deutschen Wort ertasten läßt.
Schon der erste Satz läßt uns dies spüren. Jesus geht ins Abseits – und ins Abseits folgen ihm die Scharen.
[5] Das Abseits
Unser erster Spielraum ist das Abseits. Wenn wir nur innebleiben in den funktionalen Abhängigkeiten, wenn wir nur dranbleiben an dem, was wichtig und dringend ist, wenn wir nur aktuell bleiben, uns einschalten und einmischen, eingehen auf alles und aufgehen in dem, was wir tun, dann kann Spielraum nicht werden.
Spielraum hängt ab vom Mut des Abseits, vom Mut zu jener Stille, die ein wenig entlegen erscheint: unfunktional, unstrukturiert, schmucklos. Abseits, dort konnte er sprechen, dort war er, dort kam sein Wort an, dort waren Menschen so weit weg von allem, daß sie zu sich kommen konnten, daß Gottes Wort zu ihnen kommen konnte. Ins Abseits hat er sie kommen lassen, damit sie sich diesem Abseits aussetzen, aussetzen der Unselbstverständlichkeit seines Wortes, aussetzen der Stille.
In solcher Aussetzung ins Abseits ging ihnen etwas auf von Ihm, von dem, was er ihnen zu sagen hatte.
Haben wir den Mut, uns selbst immer wieder ins Abseits zu begeben – oder bleiben wir so sehr drinnen, daß wir uns in uns und den Sachzwängen verfangen?
Wollen wir Menschen beschwichtigen und ertüchtigen – oder muten wir ihnen zu, daß sie mit uns ins Abseits gehen?
Doch was passiert in diesem Abseits? Eben das Wunder ihres Aushaltens bei seinem Wort und dann das andere Wunder der Brotvermehrung. Diese Wunder aber setzen etwas voraus, sie haben ihre Wurzel in Ihm: „Als er ausstieg, sah er viele Leute. Da ward ihm weh um sie, und er machte die Elenden unter ihnen heil.“ „Esplanchnísthè“ heißt das griechische Wort, das Fridolin Stier übersetzt: „es ward ihm weh um sie“. Die „normale“ Übersetzung lautet: „Er erbarmte sich“. Doch dieser Ausdruck „Erbarmen“ kommt bei uns sozusagen von oben her, dieses „Esplanchnísthè“ stammt vom griechischen Wort „splánchna“ ab, was Eingeweide, innere Organe, Herz bedeutet. Esplanchnísthè, das hat diesen anderen Klang: es kommt von innen her.
Der innere Raum
Der zweite Spielraum ist so der Herz- und Bauchraum des Menschen. Jener Raum, in dem die schwingenden Organe sind, die wir unmittelbar spüren, wenn uns etwas trifft, was zu Herzen geht oder auf den Magen schlägt.
Es ist der innere Raum, in dem Menschen beim Menschen wohnen können; dieser innere Raum der Empathie,
dieser innere Raum, in dem das spielen kann, was der andere ist, so daß ich das Seine mitspiele, über mich hinauswachse, um gerade so zu mir, aber auch zum anderen zu finden:
Spielraum der Barmherzigkeit,
Spielraum des Mitleidens,
Spielraum des Mitgehens,
Spielraum, in dem wir den anderen in uns tragen.
Das ist der Spielraum Gottes, der uns in Jesus eröffnet ist. Er führt uns nicht nur ins Abseits der Stille, wo wir auf ihn hören können und wo wir auch wieder den Herzschlag unserer selbst vernehmen, sondern er führt uns dorthin, wo ein menschlicher Innenraum sich uns öffnet, wo der menschliche Innenraum eines anderen Lebensraum, Spielraum für uns wird. In Jesus aber ist dieser innere Raum des Menschen Innenraum Gottes. Was Jesus menschlich in sich trägt, das trägt Gott in sich. Wenn aber wir mit Jesus und in ihm tun, was er getan hat, wenn wir sein Herz in unseres hinein zu-lassen, wenn uns wehe wird um die anderen, wenn ein Mensch uns zu Herzen geht, dann geschieht dasselbe: in uns eröffnet sich der Innenraum Gottes, in dem Gott sich erbarmt und Gott neu anfängt.
[6] Wunderbar, daß wir diesen Spielraum haben.
Spielraum des Herzens und des Magens,
Spielraum der Eingeweide.
In diesem Spielraum wird das, was außer uns ist, uns innerlich. Es kommt in uns und wird zu unserem Leben, zu unserem Leiden, zu unserer Liebe. Die andere und den anderen in uns hineinnehmen, uns einsmachen mit ihnen, leer werden von uns, auf daß sie in uns eintreten können und ihr Leben unser Leben wird.
Wie kann Schule, wie kann Religionsunterricht gelingen, wenn wir nicht diese anderen, welche die Kinder sind, in uns tragen, so daß sie uns zu Herzen gehen und uns wehe wird um sie?
Spielraum des Abseits,
Spielraum des Innern,
Spielraum des Magens und Herzens,
Spielraum, in dem der andere mit uns lebt, der in uns ist und in Gott ist, so daß wir miteinander gehen und Gemeinschaft werden können.
Die Ausweglosigkeit
Die Geschichte endet aber nicht im seligen Innesein ineinander, sie hat ihre harte und notvolle Außendimension. Ein dritter Spielraum ist gefragt. Er hat seinen Ort, wo die Menschen, wo aber auch die Jünger und Jesus selbst – menschlich gesprochen – am Rand sind. Er hat sie hinausgelockt in die Wüste, er hat sie mitgenommen ins Abseits und sie fasziniert den ganzen Tag lang. Und jetzt? Sie können nicht heimkehren, sie sind weit weg von zu Hause, sie haben nichts zu essen. Was tun? „Als es Abend geworden, traten die Jünger zu ihm und sagten: Öd ist der Ort, und die Stunde ist schon vorgerückt; entlaß nun die Scharen, daß sie in die Dörfer gehen und sich Essen kaufen. Aber Jesus sprach zu ihnen: Sie brauchen nicht wegzugehen, gebt ihr ihnen zu essen!“ Ihr, die ihr doch auch nichts habt, und Jesus weiß das doch! Genau hier öffnet sich der dritte Spielraum, und der heißt: „Aporie“, das bedeutet Weglosigkeit, Ausweglosigkeit.
Der Spielraum des Menschen entsteht nicht aus vorgeplanten und vorgefertigten Möglichkeiten, sondern aus ausgehaltenen Unmöglichkeiten. Spielraum ist, wo ich in den Unmöglichkeiten und Ausweglosigkeiten da bin und Ihm zutraue, daß Er da ist.
Wir haben ein ziemlich perfektes System entwickelt, um solche Ausweglosigkeiten möglichst zu vermeiden, vor Katastrophen gesichert und auf Unvorhergesehenes vorbereitet zu sein. Das muß so sein, das ist unsere Menschenpflicht. Doch wehe, wenn das alles ist, wenn sich das Leben nur im Ausschöpfen und Anwenden bereitgestellter Möglichkeiten erschöpft. Für das Ereignis, für das Neue wären wir so gerade nicht bereit, und wenn dann doch das Unerwartete hereinbricht, fallen wir in Panik und Ratlosigkeit. Wir haben keinen Spielraum mehr.
Glaube geschieht aus dem Wunder, und das Wunder ist das Unmögliche, und das Unmögliche geschieht eben nur dort, wo wir am Ende sind: Aporie.
Aporie: nicht billig auflösen,
Aporie: nicht ausweichen, sondern dasein, wo ich am Ende bin,
dasein, wo die oder der andere am Ende ist,
dasein, wo unser Latein am Ende ist,
dasein, so daß Er wirken kann.
In der Aporie ist der entscheidende Ort. In der Aporie hat er uns erlöst, dort, wo er ohnmächtig war,
dort, wo er keine Wunder mehr wirkte,
dort, wo er nur seine Gottverlassenheit in den Vater hineinrief:
dort ist Sein Spielraum, der Spielraum der Erlösung.
Geben wir es uns selber und geben wir es einander zu, wo wir in Aporien sind,
in Aporien mit den Menschen,
in Aporien mit der Gesellschaft,
in Aporien mit unserer Lebensgeschichte,
[7] in Aporien mit den Kindern,
Aporien der Wissenschaft,
Aporien der Kirche,
Aporien unserer selbst.
Dort geht Sein Spielraum auf. Glaube ist verschenkter Unglaube, Wunder ist verschenkte Unmöglichkeit.
Das Teilen
Aber wie geschieht dann das Wunder? Ein vierter Spielraum öffnet sich: „Er nahm die fünf Brote und zwei Fische, blickte zum Himmel auf, sprach die Preisung, brach und gab den Jüngern die Brote, die Jünger aber den Scharen. Und alle aßen und wurden satt.“
Hier ist die Stelle, an der das Wunder geschieht: im Teilen. Wo finden wir in unserer Welt den Spielraum, der Zukunft möglich macht? Zwischen den zwei Hälften des geteilten Brotes, zwischen dem in Wort und Antwort gebrochenen Wort, zwischen den Augenblicken der geteilten, mitgeteilten Erfahrung, dort, wo wir unsere Brüche uns gegenseitig aussetzen und hinhalten.
Im Teilen geht der Spielraum Gottes auf.
Leben teilen miteinander,
Leben teilen mit den Kindern,
Leben teilen in der Welt,
das ist der neue Spielraum.
Brechen wir miteinander auf, brechen wir zueinander auf, um Gottes und der Menschen Spielraum zu entdecken:
im Abseits, in der Stille, in der wir Gottes Herz und unseres und das des Nächsten schlagen hören;
im Inneren, in dem uns um den anderen wohl und wehe und das Schicksal des anderen das unsere wird;
in den Aporien, die wir aushalten und in denen wir uns Ihm hinhalten;
im Teilen, zwischen den zwei Hälften des gebrochenen Brotes.